Wer bist du und was muss ein junger Digital Native, der noch am Anfang seiner Berufskarriere steht, über dich, deine Organisation und ihre digitalen Initiativen wissen?
Ich bin Patrick Comboeuf und habe als langjähriger Digitalchef der SBB mit meinem Team unter anderem SBB Mobile, die einzige Schweizer Mega-App, die Social Media-Präsenz der SBB, die Sparbillette oder die Kooperationen mit vielen Startups "verbrochen". Heute alles Dinge, die wie selbstverständlich wirken. Damals in den späten Nuller- und frühen Zehnerjahren war die Euphorie für solche Projekte intern aber eher überschaubar.
Viele der Unternehmen, für welche ich als Führungskraft oder Coach tätig war, können sich nur schwer dem Innovators Dilemma (vgl. "Innovator’s Dilemma" von Prof. Clayton Christensen, 1995) entziehen. Etablierte Unternehmen konzentrieren sich vor allem darauf, Technologien und Prozesse, die sie schon beherrschen, stetig zu verbessern, um sich zu differenzieren. Irgendwann ist das alles aber so ausgereizt, dass der hohe Entwicklungsaufwand beim Kunden kaum noch Mehrwert produziert. Dann kommen laut Christensen Zeiten, in denen Unternehmen ganz anders handeln müssen, als sonst üblich. Nämlich:
- Nicht auf den Kunden hören!
- In Märkte investieren, die im Verhältnis eigentlich viel zu klein sind!
- Margen akzeptieren, die unter der üblichen Rendite liegen!
Wann ist dieses paradoxe Verhalten nötig – und warum? Die kurze Antwort lautet: Immer dann, wenn eine neue Technologie auftaucht, welche das Potenzial hat, das bisher etablierte "Dominant Design" zu ersetzen (Christensen bezeichnet dies als "Disruption"). Die Digitalisierung, das heisst die Entwicklung neuer digitaler Produkte, Services und Geschäftsmodelle, hat für viele Branchen disruptives Potenzial. Das gilt für Eisenbahn, Vorsorge, Gesundheitswesen oder die Bankenindustrie – notabene alles Wirtschaftszweige, mit denen ich mich in den letzten Jahrzehnten intensiv auseinandergesetzt habe.
Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt, weshalb die meisten Innovationen und der Grossteil der Wachstumsinitiativen in diesen Branchen im besten Fall eine Schlagzeile in einem Branchenblatt, sonst aber nur geringe Kundenrelevanz kreiert haben, dann ist das wohl fehlende Geduld und fehlender Mut. Dabei war Mut einmal der Startpunkt jedes Unternehmens. Und nur mit Mut werden wir wieder zum aktiven Gestalter der eigenen, jetzt viel stärker digital geprägten Zukunft.
Seit 2014 habe ich es zu meiner persönlichen Mission gemacht, diesem Defizit und Missstand entgegenzuwirken. Als Studiengangsleiter an der HWZ Hochschule für Wirtschaft konzipiere ich Ausbildungsprogramme und Lehrgänge, zum Beispiel den CAS "Fintech & Blockchain Economy" oder den auch in seiner 10. Durchführung einmal mehr ausverkauften CAS "Digital Leadership" – beide illustrieren die Zusammenhänge zwischen Mut und Erfolg auf vielfältige Weise. Und, noch viel wichtiger, sie liefern den Absolventen Instrumente und Inspiration, Dinge ändern zu wollen. Die Erfolgsrezepte der Vergangenheit sind keine Garantie für Erfolg in der Zukunft. Im Gegenteil.
Mit welcher digitalen Macherin möchtest du dich gerne einmal bei einem Kaffee austauschen, weil sie für dich ein spannendes Rollenmodell oder gar Vorbild verkörpert?
Im Rahmen meiner Rolle als Studiengangsleiter habe ich das Privileg, mehrere Wochen im Jahr im Silicon Valley zu verbringen. Ich würde gerne einmal bei einem Kaffee mit Sheryl Sandberg ausloten, wie wir Inclusion in der hiesigen Tech-Industrie noch besser hinkriegen.
Was können Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Bildung und wir alle tun, damit es in Zukunft Google, Salesforce und Facebook aus der Schweiz gibt?
Der globale Digitalzug ist fürs erste ohne die Schweiz abgefahren. Das ist insofern schade, als der Grundstein für das "moderne" Internet ja in der Schweiz am CERN in Genf bereits Anfang der 90er-Jahre gelegt wurde. Wir hätten eigentlich alles, was es braucht: einen stabilen Rechtsstaat, eine aufgeklärte und gut ausgebildete Workforce an Wissensarbeitern, hervorragende Bildungsinstitutionen sowie volkswirtschaftlichen Wohlstand, der auch mutige Investitionen zulässt. Der kleine Heimmarkt und gewisse Abgrenzungstendenzen, die ich dem Eidgenossen sonst gerne als Verschrobenheit und nicht als grobe Fremdenfeindlichkeit durchgehen lasse, hindern uns aber oft daran, wirklich gross zu denken.
Nun, ich bin kein Freund davon, vergangenen Chancen lange nachzutrauern. In den 90er-Jahren hatte ich beim Netzwerkausrüster LM Ericsson AB Gelegenheit, im Rahmen eines Talentprogramms bei einem Pitch für ein Infrastrukturprojekt in einem grossen afrikanischen Land mitzuwirken. Die dortige Regierung suchte einen Lieferanten, welcher alle grösseren Städte im Land mit einer Fixnetz-Infrastruktur sowie einem VPN-Netz zur Anbindung der dortigen Filialen der Staatsbank ausrüsten sollte. Damit wollte das Land, den Abstand zu den westlichen Volkswirtschaften der ersten Welt schliessen, so der Plan.
Bei einer Arbeitslosenquote von 40 Prozent, einem Kupferpreis von USD 200 pro Kilo auf dem lokalen Markt, wo ein Spaten aber nur USD 8 kostete, schien uns die Aussicht, innert nützlicher Frist eine stabile technische Fixnetzinfrastruktur zu bauen, fragwürdig. Zu offensichtlich war die Gefahr, dass mit Spaten bewaffnete Menschen die Kupferkabel neben den Hauptstrassen ausgraben und das dabei gewonnene Material eingeschmolzen am Markt verkaufen würden.
Deshalb arbeiteten wir unter dem Projektnamen "Leapfrog" ein Szenario aus, wie die Staatsbank über mobile Breitbandnetze Finanzdienstleistungen zu den Bürgern hätte bringen können. Ich weiss nicht mehr genau, was letztendlich aus diesem Projekt geworden ist. Was ich aber weiss ist, das mit genau diesem Szenario ein Fundament gelegt wurde, auf dem der Kontinent Afrika mittlerweile zum globalen Innovationshub für Mobile Banking geworden ist.
Vielleicht sollten wir uns als Schweiz daran ein Beispiel nehmen. Anstatt mit unserer immanenten Gewissenhaftigkeit ein besseres Amazon zu bauen (Siroop, anyone?), täten wir gut daran, in die nächste oder übernächste Geländekammer zu blicken. Data Sovereignity, Ethically-sound Artificial Intelligence, aktuelle Pains einer Blockchain-Lösung zuführen (und nicht umgekehrt) oder die technologisch induzierte Verbesserung der Fussgängersicherheit als grösster Hebel für die gesellschaftliche Akzeptanz von autonomer Mobilität – das sind Handlungsfelder mit riesigem Potenzial.
Noch viel wichtiger, die Schweiz bringt ganz vieles mit, damit wir dies sogar schneller und besser angehen als die Mitbewerber an der amerikanischen Westküste oder in China. Ecosysteme wie das Crypto Valley sind meines Erachtens als Organismus heute schon mächtiger, als es ein einzelner Tech-Gigant je sein wird. Auch bei den Blockchain-Enthusiasten rund um den Zugersee haben viele der Etablierten anfänglich nur milde gelächelt oder sie gar für verrückt erklärt.
Steve Jobs hat in seiner berühmten Grussbotschaft an Absolventen der Stanford University den Satz geprägt: “People who are crazy enough to think they can change the world are actually the ones who do." Diesen Glauben müssen wir uns, unseren Kindern, den Millennials, aber auch den älteren Generationen wieder stärker bewusst machen. Die 70 bis 80 Studenten, denen ich das in meinen Lehrgängen pro Jahr zu vermitteln versuche, sind da nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Aber immerhin ein Anfang.
Was würde dein Teenager-Ich heute zu dir sagen und was würdest du deinem 15-jährigen Ich mit auf den Weg geben wollen für seine Zukunft?
Ich war erst versucht zu antworten: Sei mutig, verbiege dich nicht und gehe deinen Weg. Das ist mir aber irgendwie zu einfach. Und wohl auch mit ganz viel Frust verbunden.
Jedem grossen Wandel geht Chaos voraus. Das kann man entweder aussitzen oder über Allianzen und intensiven Dialog daran arbeiten, mehrheitsfähige und den Ängsten der Gesellschaft (und den Aktionären) Rechnung tragende Lösungen zu finden. Im Jahre 2020 sind Digital Natives, also Menschen mit dem Internet (oder Smartphone) als ihrem einzigen/wichtigsten Referenzpunkt, mit einem Anteil von über 40 Prozent die grösste aktive Bevölkerungsgruppe in der Schweiz. Zusammen mit den Digital Converts sind also 4 von 5 Einwohner*innen "digital".
In den Geschäftsleitungen der meisten Unternehmen lässt aber eine Mehrheit der Manager ihre E-Mails noch von der Sekretärin ausdrucken. Es wäre töricht zu erwarten, dass aus solchen Boards mutige Digitalstrategien kommen. Hier sollte mein 15-jähriges Ich ein Feld sehen, wo er und seine Mitstreiterinnen einen sinnstiftenden Beitrag leisten können im Dialog mit den Lenker*innen und Denker*innen in den Führungsetagen.
Welchen Stellenwert haben Anlässe wie der Digital Economy Award für die Förderung einer starken digitalen Innovationskultur in der Schweiz?
Ich besuche selbst viele Veranstaltungen mit einem digitalen Kontext im In- und Ausland. Oft treffe ich dort Menschen, die im Geiste schon "digital" sind. Diese Bubble ist aber gefährlich. Genauso gefährlich, wie wenn mittelalterliche weisse Herren in ihren Büros die Weltherrschaft planen. In Meetings geht eben auch viel Bezug zur (digitalen) Realität verloren.
Manager können sich mit ihrer vollgepackten Agenda selten die Zeit nehmen, an Bildungsinstitutionen oder Digitalkonferenzen Neues zu lernen, zu entlernen, zuzuhören und sich auf für sie ungewohntes Terrain zu begeben. Aber den Abend der Digital Economy Awards sollten genau sie nutzen. Dort sollen sie sich im Gespräch mit ihren Peers, noch lieber aber mit den Digital Natives und Preisträgern mit der verheissungsvollen Zukunft des digitalen Ökosystems Schweiz, auseinandersetzen. Und hoffentlich auch den Impuls und die Inspiration mitnehmen, selbst ein gestalterischer Teil davon zu werden.