Patrick Comboeuf zur neuen Finanzmarkt-Architektur: The Finternet – von der Vision zu konkreten Handlungsfeldern auch für den Schweizer Finanzplatz.
Die Fortschritte der Digitalisierung haben das Leben der Menschen in den letzten Jahrzehnten verändert. Doch weite Teile des Finanzsystems stecken noch in der Vergangenheit fest. Viele Transaktionen dauern immer noch Tage und sind auf zeitaufwendige Clearing-, Nachrichten- und Abwicklungssysteme sowie Papierwege angewiesen.
Die Verbesserung der Funktionsweise des Finanzsystems ist daher ein wichtiges politisches Ziel, welchem sich viele Organisationen und politische Entscheidungsträger in den vergangenen Jahren intensiv gewidmet haben.
Das Jahr 2024 markierte bei diesem Aufbau eines zukunftsfähigen globalen Finanzsystems eine eigentliche Zäsur. Die verschiedenen Anspruchsgruppen anerkannten die Notwendigkeit einer gemeinsamen Vision für das, was sie mit der nächsten Generation der Finanzmarktarchitektur erreichen wollen.
Die BIZ als Fahnenträger für ein gerechteres, leistungsfähigeres und digitales Finanzsystem
Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) mit Sitz in Basel hat sich als zentrales Gemeinschaftswerk der Finanzindustrie schon beim ersten Brainstorm-Meeting an einem Side Event im Rahmen der G20-Zusammenkunft in Bengaluru, Indien, aktiv in die Diskussion um eine zeitgemässe Finanzmarktarchitektur eingebracht.
Dies gipfelte im Frühjahr 2024 in der Präsentation des White Paper "Finternet" als Vision für das zukünftige Finanzsystem. Das Konzept beschreibt, wie mehrere Finanzökosysteme miteinander verbunden sind – ähnlich wie das Internet.
Einheitliche Ledger sind ein vielversprechendes Mittel, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Auf der Grundlage eines Digital-First-Ansatzes und unter Nutzung der Tokenisierung würden Unified Ledgers bestehende Finanztransaktionen verbessern, aber auch völlig neue Finanzprodukte und Transaktionen ermöglichen.
In ihrem Paper beschreibt die BIZ die wirtschaftliche Legitimation für das Finternet sowie die erforderlichen technischen, regulatorischen und rechtlichen Bausteine. Darüber hinaus werden acht grundlegende Designüberlegungen vorgestellt, welche nicht nur in den Augen der BIZ ein zentraler Bestandteil des zukünftigen Finanzsystems sein sollten.
Die Dreifaltigkeit als Fundament für die Zukunftsfähigkeit der globalen Wirtschaft
Als Voraussetzung für eine effiziente globale Wirtschaftsordnung hat die BIZ drei notwendige Komponenten identifiziert: eine solide aber dynamisch skalierbare Finanzarchitektur, die Anwendung digitaler Spitzentechnologien und einen soliden Rechts- und Verwaltungsrahmen.
Einheitliche Ledger sind ein vielversprechendes Mittel, um alle drei Komponenten zu erfüllen. Insbesondere könnten sie durch die Zusammenführung mehrerer Finanzanlagen an einem einzigen Ort den Bedarf an langwierigen Nachrichtenübermittlungs- und Clearing-Prozessen im Interbankenverkehr erheblich verringern und so den Nutzern effizientere und zuverlässigere Dienstleistungen bieten.
Eine bessere finanzielle Selbstbestimmung als hehres Ziel
Ziel ist es, Privatpersonen und Unternehmen dabei zu unterstützen, die volle Kontrolle über ihr finanzielles Leben zu haben. Der Einsatz von Technologie hat dazu geführt, dass Aufgaben, die früher teuer und zeitaufwendig waren, wie zum Beispiel ein Telefonat im Ausland oder die Buchung eines Hotelzimmers in einer fremden Stadt, heute mit einem Fingerschnippen erledigt werden können.
Das Finternet soll die gleiche Art von Fortschritt für Finanzdienstleistungen bringen. Wir stellen uns ein System vor, in dem Individuen und Organisationen jeden finanziellen Vermögenswert, in jeder Höhe, zu jeder Zeit, mit jedem Gerät, an jeden anderen, überall auf der Welt, übertragen können. Die Finanztransaktionen wären günstig, sicher und nahezu sofort ausgeführt. Und sie wären für jedermann zugänglich.
Das Finternet bedient offensichtliche "Profiteure" …
Dies ist einerseits wichtig für Schwellen- und Entwicklungsländer. Trotz zahlreicher bemerkenswerter Initiativen zur Förderung der finanziellen Eingliederung – angeführt von staatlichen Behörden, Zentralbanken, multilateralen Finanzorganisationen und den Vereinten Nationen – bestehen nach wie vor grosse Lücken und Unterschiede beim Zugang zu Finanzdienstleistungen zwischen den fortgeschrittenen, etablierten Volkswirtschaften einerseits und den Schwellenländern und den am wenigsten entwickelten Ländern andererseits.
Auch mit einer Schweizer Brille ist es erstaunlich, wie viele Finanzdienstleistungen und -instrumente in vielen dieser Länder einfach nicht verfügbar sind – insbesondere für Menschen, die in abgelegenen Gebieten leben oder ein geringes Einkommen haben.
Und selbst wenn wie in der Schweiz fast alle Einwohner Zugang zu Finanzdienstleistungen haben, sind hohe Transaktionskosten und langsame Dienstleistungen allgegenwärtig. Darin spiegeln sich eine Reihe struktureller Mängel wider, darunter fehlender Wettbewerb, eine teilweise unzureichende öffentliche Infrastruktur und Engpässe aufgrund veralteter Systeme, die mit den Lösungs- und Kapazitätsanforderungen einer modernen Wirtschaft nicht überzeugend Schritt gehalten haben.
… und behält gleichzeitig ein weltweit anerkanntes Problem im Blick
Im Finternet sollen mehrere Finanzökosysteme wie das Internet miteinander verbunden werden. Dadurch erhalten eben auch Individuen die Möglichkeit, ihr Finanzleben selbst in die Hand zu nehmen. Der Schlüssel dazu ist wie so oft, sich einen Überblick über die tatsächliche (finanzielle) Lage zu verschaffen.
Wenn nun über das Finternet technische Schnittstellen, analytische Insights – mittlerweile meist unterstützt durch Agentic AI und das ursprüngliche Wesen von Open Banking – zusammengeführt werden, entsteht genau diese Transparenz.
Dies wiederum schafft nicht nur für die betroffenen Personen offensichtlichen Nutzen, sondern über eine aggregierte Datenebene auch für politische Entscheidungsträger sowie für das Finanzsystem und deren Teilnehmer generell.
Letztere können durch niederschwellig zugängliche Anlageprodukte, wie zum Beispiel Säule-3A-ETFs oder Kryptosparpläne, Angebote schaffen, welche Anleger dazu motivieren, sich aktiver um die bessere Bewirtschaftung ihres Vermögens zu kümmern. Dies vor allem auch deshalb, weil Anlegerinnen und Anleger sich ihrer tatsächlichen Sparquote und frei verfügbaren Guthaben bewusst sind.
Das ist wichtig, weil beispielsweise der Pension Gap eine global tickende wirtschaftliche (und gesellschaftliche) Zeitbombe darstellt. Die Tragweite des Problems der Altersarmut (und deren Finanzierung) wird augenscheinlich, weil selbst die reichsten Länder der Welt – unter andere auch die Schweiz, Singapur oder Luxemburg – offen anerkennen, dass sie (noch) keine befriedigenden Antworten und Lösungen für dieses Problem gefunden haben.
Schweiz: von Digitalisierung 1.5 bei den Banken…
In der ersten Welle der Digitalisierung bei Finanzinstituten ging es vornehmlich darum, analoge Prozesse durch Automatisierung und Abbau von Medienbrüchen zu beschleunigen. Aus der Sicht des Endkunden, egal ob Retail oder Private Banking, gab es seit dem Beginn der Publikums-Internet-Ära ab Anfang der 90er-Jahre zwar durchaus eine gewisse Ausweitung an einfach zugänglichen Dienstleistungen wie E-Trading, Online-Banking, Digital Assets oder Mobile Payment.
Aber bei Lichte betrachtet war die Mehrheit dieser vermeintlichen Innovationen vor allem aus einer "Inside Out"-Perspektive der Banken (und Neo-Banken) getrieben. Die mit dieser Art von Digitalisierung erwarteten Kostenvorteile landeten so denn in den allermeisten Fällen nicht beim Kunden, im Gegenteil.
Für die (vermeintlich) bessere Digital Convenience zahlten in der Regel die Nutzer die Zeche, in Form von (neuen) Gebühren, Transaktionskosten oder Beratungsfees. Oftmals wurde Letzteren dazu auch noch die Erfassungsarbeit oder das Scanning übertragen.
… zu einem nächsten Quantensprung für die Endkunden?
Beim Shift von Convenience zu finanzieller Selbstbestimmung müssen die Kundenperspektive und die übergeordneten Bedürfnisse viel stärker in den Fokus rücken. Also zum Beispiel eine steuerlich optimierte Vorsorge, smarte Übertragung von Vermögenswerten innerhalb der Familie oder nur schon eine fachliche Einschätzung der nunmehr transparenten eigenen finanziellen Situation.
Das Finternet-Konzept plädiert gerade hier für einen viel stärker nutzerzentrierten Ansatz, der die Barrieren zwischen Finanzdienstleistungen und -systemen abbaut und so den Zugang für alle fördert. Das geplante System nutzt innovative Technologien wie Tokenisierung, Open-Banking-Schnittstellen und einheitliche Ledger, die durch einen soliden wirtschaftlichen und regulatorischen Rahmen gestützt werden, um das Angebot und die Qualität von Finanzdienstleistungen drastisch zu erweitern.
Diese Integration soll eine kollaborativere Beteiligung fördern, noch personalisiertere Dienstleistungen anbieten und die Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit verbessern, während gleichzeitig die Kosten für die Endnutzer gesenkt werden.
Der grösste Teil der Technologie, die zur Verwirklichung dieser Vision benötigt wird, ist insbesondere am helvetischen Finanzplatz bereits vorhanden und wird dank weltweiter Bemühungen rasch verbessert.
KI mit Open Banking birgt immenses Potenzial für die finanzielle Vorsorge
Durch die Öffnung von Bankdaten können personalisierte Vorsorgepläne erstellt werden, die auf den individuellen Finanzdaten basieren. Innovative FinTechs, aber eben auch etablierte Institute, könnten so massgeschneiderte Lösungen anbieten, die über die bisherigen Angebote hinausgehen.
Im Zusammenspiel mit Large- oder Small-Language-Modellen, den API-Layern der von SIX Group in der Schweiz propagierten b-Link Plattform sowie dem Finternet-Konzept, das eine nahtlose Integration von Finanzdienstleistungen in den digitalen Alltag anstrebt, könnten sich völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Weit über die Altersvorsorge hinaus.
Neben automatisierten Sparplänen, die sich in Echtzeit an die Einkommens- und Ausgaben-Entwicklung anpassen, macht der jede Vermögenskomponente umfassende Überblick plötzlich vieles effizienter zugänglich. Zum Beispiel auch bisher nur mühsam darzustellende individuelle Steuersparmodelle oder die persönliche Pensionierungsplanung.
Für die Branche wiederum eröffnen sich gerade im Produktbereich neue Möglichkeiten – weg von Standard-Fonds hin zu datengetriebenen Individual-Empfehlungen, welche durch das Zusammenspiel dieser Technologien unter dem Strich sogar günstigere Transaktionskosten ausweisen als früher.
Das Finternet White Paper liefert hier natürlich noch keine fertigen Lösungen, sondern erst einen Entwurf dafür, wie technische Schlüsseleigenschaften wie Interoperabilität, Überprüfbarkeit, Programmierbarkeit, Unveränderlichkeit, Endgültigkeit, Evolvierbarkeit, Modularität, Skalierbarkeit, Sicherheit und Datenschutz integriert werden. Und auch, wie verschiedene Governance-Normen eingebettet werden können.
Die Verwirklichung dieser Vision bedingt eine proaktive Zusammenarbeit zwischen Behörden und Institutionen des Privatsektors. Das Papier dient auch als Aufruf zum Handeln für diese Einrichtungen, um eine solide Grundlage zu schaffen.
Dies würde den Weg für ein nutzerzentriertes, einheitliches und universelles Finanzökosystem im digitalen Zeitalter ebnen, das integrativ, innovativ, partizipativ, zugänglich und erschwinglich ist – und niemanden zurücklässt, auch nicht den Schweizer Durchschnittssparer.