Nein, sagt der UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Eröffnungsrede zur Sitzung der Uno-Frauenrechtskommission, schlimmer: Machen wir so weiter wie bisher, dauert es 300 Jahre, bis die Gleichstellung der Geschlechter selbstverständliche Tatsache geworden ist.
Der "Tages-Anzeiger" fasst den Bogen etwas enger als Guterres, richtet den Blick "nur" auf die Schweiz und listet in einer umfangreichen Datenanalyse auf, wo die Schweiz bei der Gleichstellung abgehängt worden ist. In zwölf Bereichen erkennen die Autoren Handlungsbedarf:
- Frauen erhalten weniger Lohn
- Schwangere werden diskriminiert
- Es gibt keine Elternzeit
- Frauen leisten mehr Hausarbeit
- Frauen beziehen eine tiefere Rente
- Es gibt kein Anti-Stalking-Gesetz
- Frauen sind politisch untervertreten
- Long Covid betrifft meist Frauen
- Ungleiche berufliche Aufstiegschancen
- Wenig Frauen in technischen Berufen
- Es gibt eine Geschlechter-Datenlücke
Ein Blick auf Europa: im Gleichstellungs-Index 2022 steht die gesamte EU im Durchschnitt aller Länder bei 68.6 von angestrebten 100 Punkten. Ob das viel oder wenig ist, zeigt ein Vergleich über die Jahre. 2015 stand der Gleichstellungs-Index bei 64.4 Punkten, sieben Jahre und Berichte später sind es nur gerade 4.2 Punkte mehr.
Das fehlende Tempo scheint sich weder mit politischen noch mit gesellschaftlichen Unmöglichkeiten erklären zu lassen, die grundsätzlich im Wege zu stehen – den Gegenbeweis liefert Schweden mit der europäischen Höchstmarke von 83.9 bisher erreichten Punkten.
Gibt's auch ermutigende Fortschritte?
Ja, die gibt's in mehreren Bereichen. Zum Beispiel zeigt der aktuelle Schillingreport 2023, dass erstmals über die Hälfte (52 %) der 100 grössten Schweizer Arbeitgeber mindestens 3 Frauen im Verwaltungsrat haben, gleichzeitig steigt der Anteil der Unternehmen mit mindestens 3 Frauen in der Geschäftsleitung auf 20 Prozent. Die Zahl der weiblichen CEOs erhöht sich von 9 auf 10 – und hat sich im laufenden Jahr bereits auf 11 entwickelt. Gleichzeitig steigt die Zahl der weiblichen CFOs von 9 auf 14. Somit beschäftigen 20 Prozent der Unternehmen einen weiblichen CEO oder CFO.
Diese Entwicklung ist erfreulich, aber eben nur eine Teilansicht, zumal die meisten Frauen in einem anderen Alltag leben und damit weder die Ambitionen noch die Möglichkeiten haben, CEO oder Verwaltungsrätin zu werden.
Sind 42 Jahre nicht genug?
Seit 1981 ist die Gleichstellung der Geschlechter in der Bundesverfassung der Schweiz verankert. In Artikel 8, Absatz 3 steht geschrieben:
«Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.»
42 Jahre und zahlreiche Initiativen und Weltfrauentage später bleiben weiterhin vorhandene Nicht-Gleichstellungen, Forderungen und medial publizierte Defizite deutlich in der Überzahl, im Vergleich zu den erreichten Fortschritten.
Das ist erstaunlich und die Frage stellt sich: Warum haben mehr als vier Jahrzehnte nicht genügt, um die empfundene Selbstverständlichkeit der Gleichstellung der Geschlechter in den schweizerischen Alltag, in Familie, Ausbildung und Arbeit zu bringen?
Sollten wir den Weltfrauentag abschaffen?
Zumindest sollten wir die Strategie ändern. Wenn weitere 300 Jahre notwendig sind, um die Gleichstellung der Geschlechter international zu schaffen, und geschätzte 100 Jahre, um die Schweizer Liste des Tages-Anzeigers ins Lot zu bringen, dann verfolgen wir möglicherweise das falsche Konzept.
Der Weltfrauentag mit zahlreichen Aktionen, Demonstrationen und grossem medialem Echo schafft extrem viel Aufmerksamkeit. Einen Tag lang. Für die restlichen 364 Tage scheint die überstrapazierte Aufmerksamkeitsspanne einzuknicken, um erst am nächsten Weltfrauentag wieder zur Hochform zu finden.
Unsere Redaktion schlägt vor, den Weltfrauentag probeweise abzuschaffen und entschlossen durch das Weltfrauenjahr zu ersetzen. Dann wäre jeder Tag ein Weltfrauentag – ein ganzes Jahr lang. Jeder Tag bringt eine neue Aufgabe für Parlamente, für die Gesellschaft und für die Wirtschaft. Für Schulen aller Stufen vielleicht auch, um die Sensibilität für noch nicht vorhandene Selbstverständlichkeiten zu schärfen.
Die Frage, ob dieser Vorschlag als Witz verstanden werden darf, beantworten wir mit einer schlichten Einsicht. 42 Jahre haben gezeigt: das Konzept der Unentschlossenheit, der gelegentlichen und kleinen Schritte hat Schiffbruch erlitten, so ist das nicht zu schaffen. 300 Jahre international und geschätzte 100 Jahre national sind zu lange und lassen offenbar nur gerade zu, die immergleichen Probleme und Defizite jährlich einmal zu diskutieren. Deshalb lieber Hauruck und Nägel mit Köpfen.
Das hätte dann auch Vorteil, dass wir uns ab 8. März 2024, gleichgestellt und mit vereinten Kräften, verstärkt um die zahlreichen anderen Probleme kümmern könnten, welche die Welt und die Schweiz beschäftigen. Auch da können wir uns ein gemächliches Tempo nicht leisten, die aktuelle Problem-Eskalation ist nur mit Entschlossenheit und tragfähigen Lösungen zu bewältigen.
Die Chance, auch in anderen Bereichen schneller voranzukommen, dürfte sich jedoch erhöhen, wenn das 42-jährige Dauerbrenner-Thema der Gleichstellung als "gelöst" von der Traktandenliste gestrichen werden kann und nur noch auf der Beobachtungsliste eine Rolle spielt. Nicht unbedingt deshalb, weil nun ein Thema weniger auf der Liste der offenen Probleme figuriert – mehr, weil wir durch hartes Training zwischen heute und 8. März 2024 gelernt hätten, Probleme wirklich anzupacken und zu lösen, statt sie nur zu diskutieren und zu verwalten.