Arbeitszeitgesetze hinken der Realität hinterher

Mercer Global Talent Trends 2017
Mercer Global Talent Trends 2017
Mercer Global Talent Trends 2017

Die Digitalisierung verändert Wirtschaft und Umfelder sehr schnell – das schafft neue Anforderungen, die mit bestehenden Gesetzen nicht zu stemmen sind.


Das Ende des Acht-Stunden-Tages in der Diskussion

Dass die Wirtschaftsweisen in Deutschland die Politik auffordern, das Arbeitsgesetzt zu lockern, überrascht nicht im Inhalt, mehr im eher späten Zeitpunkt. Konkret soll die Arbeitszeit nicht weiterhin mit acht Stunden auf den Tag fixiert bleiben, vielmehr sollen vierzig Stunden flexibel über die Woche verteilt werden können. Christoph Schmidt, Vorsitzender des Gremiums zur Welt am Sonntag:

«Firmen, die in unserer neuen digitalisierten Welt bestehen wollen, müssen agil sein und schnell ihre Teams zusammenrufen können. Die Vorstellung, dass man morgens im Büro den Arbeitstag beginnt und mit dem Verlassen der Firma beendet, ist veraltet.»

Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer kürzlich zum Thema:

«Wir brauchen bessere Möglichkeiten, die Arbeitszeit über die Woche hinweg flexibel zu verteilen. Es geht nicht um eine Ausdehnung der Wochenarbeitszeit. Aber der starre Achtstundentag für alle im Gleichschritt ist passé. Aber die Politik hält fest an einem Arbeitszeitgesetz aus der Stechuhrzeit des letzten Jahrhunderts. Das behindert Wachstum und Beschäftigung. Gute, sichere Jobs müssen flexibel sein.»
 

Generelle Flexibilisierung ist notwendig

Ein guter Ansatz, die Diskussion muss jedoch weiter gefasst werden. Neben der Flexibilisierung oder Verteilung der Wochenarbeitszeit von vierzig Stunden, was Vollzeitbeschäftigte betrifft, gehören flexible Arbeitsplatz-Modelle sowie Teilzeit-Optionen mit in die Diskussion. In der Politik und in der Wirtschaft – die Gesellschaft und eine wachsende Zahl von Unternehmen sind schon einen Schritt weiter und setzen neue Modelle teilweise bereits um.

In digitalisierungsaffinen Unternehmen brennen abends und nachts die Lichter am längsten. In Coworking Hubs auf der ganzen Welt gehen sie gar nie aus, die Hubs bleiben 24 Stunden offen und belebt. In beiden Fällen nicht bevölkert von Workaholics mit Augenringen, sondern von wechselnden Teams und motivierten Workern, die flexibel arbeiten. In unterschiedlichen Gruppierungen und an unterschiedlichen Orten, auch im Home Office.

Wer will das und wer braucht das?

Über allem stehen Entwicklungen im Zusammenhang mit Technologie und Digitalisierung, die noch sehr viel stärker als heute bereits spürbar die Zukunft prägen werden. Wie, wo und wie viel wir arbeiten, wird sich möglicherweise sehr viel schneller ändern als gedacht. Das schafft Herausforderungen, die ohne neu Konzepte und Modelle nicht zu stemmen sind. Auf der anderen Seite bringt das auch neue Freiheiten, die dann genutzt werden können, wenn sich die digitale Zukunft "nicht einfach ereignet", sondern aktiv gestaltet wird – von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung. Damit sind alle am Prozess Beteiligten auch schon benannt.

Die ganz grosse Linie ist schwer zu fassen, deshalb macht es Sinn, in Portionen zu denken, ohne das Gesamte aus den Augen zu verlieren. Zuerst also die Portion, die aktuell zur Debatte steht: Arbeitsflexibilisierung und Arbeitsgesetze.

Die Wirtschaft

Unternehmen werden an vorderster Front mitspielen, im eigenen Interesse. Mit starren Regeln, Gesetzen und im Acht-Stunden-Takt sind aktuelle und kommende Herausforderungen nicht zu meistern. Allerdings brauchen auch Gremien in der Wirtschaft und in Unternehmen zusätzliche gedankliche Flexibilität. Zum einen, weil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenfalls (erfüllbare) Vorstellungen haben werden. Zum anderen, und das ist die grössere (bereits etwas vorausgedachte) Knacknuss: Wenn in Zukunft sehr viel mehr Menschen Teilzeit arbeiten werden, stellt das hohe Ansprüche an Planung, Organisation, Strukturen und Prozesse. Dennoch: Will man die Besten an Bord haben, was die Zukunft sichert, dürfte die Motivation hoch sein, Unternehmensziele und neue Arbeits- und Arbeitszeitmodelle in Einklang zu bringen.

Die Politik

Digitalisierung hat als Schlagwort in der Politik Konjunktur. Nicht ganz klar ist zuweilen, ob alle dasselbe oder zumindest etwas Ähnliches darunter verstehen. Eine überschaubare Zahl an Vordenkerinnen und Vordenkern ist auf allen Parketten sehr aktiv, "die Politik" insgesamt agiert noch verhalten. In den meisten europäischen Ländern, auch in der Schweiz. In unserem Land fällt auf, dass die Exekutive teilweise aktiver involviert ist und näher am Thema agiert als das Parlament. Die Bundesräte Johann Schneider-Ammann, Doris Leuthard und Ueli Mauer haben in ihren Departementen und auch gemeinsam schon einiges bewegt und bewegen weiter. Im Nationalrat und im Ständerat, einige wenige Exponenten ausgenommen, scheint planerisch noch eher Ruhe zu herrschen – hoffentlich jene vor dem Sturm, der uns mit engagiert geführten Diskussionen überraschen wird. Auch zum Thema Flexibilisierung der Arbeiszeit.

Wissenschaft und Bildung

Die Wissenschaft prägt die Digitalisierung mit und die Bildung entwickelt Szenarien zu neuen Berufsbildern, Umschulungs-Angeboten und mehr, gemeinsam mit der Wirtschaft. Private Bildungsinstitutionen scheinen etwas weiter fortgeschritten in Planung und Konzepten, die Diskussion wird jedoch zunehmend breiter geführt. Weniger in Bezug auf Arbeitszeit-Flexibilisierung, mehr im Hinblick auf Anforderungen und Berufsbilder, welche durch Digitalisierung und der damit einhergehenden Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort entstehen.

Die Gesellschaft: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Motivierend für die Crew: Innovative Technologie, Geräte und Tools
Nach einer Studie von Sharp Business Systems empfinden nur 19 Prozent der Angestellten ihren Arbeitsplatz als motivierend. Das hängt zum Teil auch mit technischen Systemen im Office zusammen, welche den Arbeitsfluss nicht unbedingt beschleunigen. Zum Beispiel arbeiten 56 Prozent der unter 35-Jährigen (auch) am Arbeitsplatz lieber mit ihren eigenen Geräten (PC, Smartphone etc.), weil sie die Technologie im Büro als veraltet empfinden. Über 35-Jährige sehen das auch so, mit einem Anteil von 42 Prozent.

Ähnlich beim Training und bei der internen Weiterbildung: Eine Studie der Unternehmensberatung Mercer kommt zum Schluss: Nur 35% der Mitarbeiter geben an, dass sie Zugang zu innovativen Tools und Technologien haben, um ihre Ausbildung und Entwicklung zu unterstützen, das wird als Mangel empfunden.

Acht Stunden pro Tag oder lieber flexibel arbeiten?
Die Studie von Mercer ist sehr breit angelegt, wird in zahlreichen Bereichen konkret und differenziert. Weltweit sind 5'400 Angestellte, 1'700 HR-Profis und 400 Manager aus 37 Ländern und 20 Branchen befragt worden. Die Studie zeigt zum Teil eklatante Differenzen in der Betrachtung von Werten, Arbeitsmodellen und mehr zwischen den drei Befragten Gruppen. Und zum Thema der flexiblen Arbeitszeiten gibt's auch Überraschungen.

Weshalb planen 34 Prozent aller Arbeitnehmer ihren Abgang?
Rund ein Drittel der Befragten gibt zu Protokoll: Der aktuelle Job soll innerhalb der nächsten zwölf Monate an den Nagel gehängt werden. Das hat zahlreiche Gründe, unter anderen und passend zum aktuellen Thema auch diese:

Wunsch
77 Prozent der Arbeitnehmer, die aktuell hundert Prozent arbeiten, sind an alternativen Anstellungsverhältnissen interessiert.

Gegensatz
Geschäftsführer und HR-Manager sehen das zum grossen Teil anders, sie glauben, dass alternative Arbeitsverhältnisse in den nächsten zwei Jahren in ihren Unternehmen (noch) keine Bedeutung haben werden.

Und so prallen Wunsch und Machbarkeit aufeinander
Mehr als die Hälfte der Befragten hat konkret um flexible Arbeitsbedingungen gebeten, allerdings erfolglos, die wurden ihnen nicht gewährt.

Jeder zweite Mitarbeiter äussert Bedenken, dass sich Teilzeit- oder Home Office-Arbeit negativ auf seine Karriere auswirken könnte.

Hohe Bereitschaft und gute Voraussetzungen für die Diskussion
Die Studie von Mercer zeigt, dass mit flexiblen Arbeitszeit- und Arbeitsplatz-Modellen bei Angestellten offene Türen eingerannt werden. Der hohe Anteil der Zustimmung ist überraschend und setzt klare Signale: Politik und Wirtschaft werden in Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern interessierte und offene Gesprächspartner finden, um die Modalitäten der neuen Modelle auszuhandeln.

Die umfangreiche Studie von Mercer kann hier kostenlos runtergeladen werden:

Studie: Talent Trends | 2017 Global Study | Empowerment in a disrupted World