Der Unterlassungseffekt: Die verborgenen Kosten der Untätigkeit für Unternehmen

Das Bild mit Managern, die diskutieren, während Katastrophen passieren, beschreibt den Unterlassungseffekt

Der Zusammenbruch der Credit Suisse und die Auswirkungen des Unterlassungseffekts. Claire Garwacki zu einem vermeidbaren Phänomen.

Vor fast 40 Jahren erschütterte die Explosion der Raumfähre "Challenger" die Welt. Die Tragödie, bei der sieben Astronautinnen und Astronauten ums Leben kamen, hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn frühe Warnzeichen rechtzeitig erkannt und ernst genommen worden wären.

Ingenieure hatten auf Risiken hingewiesen, die mit Dichtungen bei Kälte zusammenhingen, doch ihre Warnungen gingen in der langen und komplexen Entscheidungsstruktur unter. Diese Katastrophe ist ein Paradebeispiel für den Unterlassungseffekt – die menschliche Tendenz, aus Angst vor Fehlern lieber nichts zu tun und schwache Signale zu ignorieren.

Was ist der Unterlassungseffekt?

Der Unterlassungseffekt beschreibt einen unbewussten kognitiven Fehler: Die Tendenz, sich für Untätigkeit zu entscheiden, anstatt eine schwierige Entscheidung zu treffen – aus Angst, Fehler zu machen. Daniel Kahneman, Nobelpreisträger für Wirtschaft, hat gezeigt, dass der Mensch Untätigkeit bevorzugt, weil sie kurzfristig weniger riskant erscheint. Doch dieses Nichtstun birgt gravierende Folgen.

In Unternehmen zeigt sich dieser Effekt häufig darin, dass schwache Signale oder Risiken ignoriert werden, weil sie als nicht dringlich oder nicht wichtig empfunden werden. Diese Haltung lähmt jedoch Innovationsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit.

Ein aktuelles Beispiel liefert der dramatische Zusammenbruch der Credit Suisse. Trotz klarer Anzeichen wie wiederkehrender Reputationsprobleme, Risiken im Zusammenhang mit Archegos und Greensill sowie interner Governance-Probleme, wurde zu spät gehandelt. Die Warnzeichen hätten einen schnelleren und entschlosseneren Handlungsbedarf verlangt, wurden jedoch zu spät berücksichtigt.

Die Auswirkungen auf die Unternehmensleistung

Unternehmen haben oft Schwierigkeiten, subtile Hinweise zu erkennen oder richtig zu deuten. Diese Signale können sich auf unterschiedliche Weise zeigen: Ein Mitarbeiter, der in einer Besprechung schweigt, kommuniziert möglicherweise Frustration oder fehlendes Vertrauen – nicht bloss Desinteresse.

Im Schweigen liegt also teilweise mehr Ausdruckskraft als in der aktiven Kommunikation. Wenn solche Situationen ignoriert werden, besteht die Gefahr, ein zugrunde liegendes Problem zu übersehen, das die Teamkohäsion oder den Erfolg eines Projekts gefährden könnte.

Ein weiteres Beispiel: Ein direkter Vorgesetzter erwähnt regelmässig, aber beiläufig, dass er etwas müde sei. Solche Bemerkungen deuten oft nicht nur auf Erschöpfung hin, sondern auf eine dauerhafte Überlastung oder Stress. Werden diese Hinweise ignoriert, kann dies zu schleichender Erschöpfung und damit zu einem Leistungsabfall führen.

Auch im Vertrieb zeigt sich der Unterlassungseffekt. Wenn ein Verkäufer seine Prognose mit den Worten «Es ist machbar, aber es wird schwierig dieses Jahr» beschreibt, handelt es sich meist um mehr als eine neutrale Aussage in Bezug auf die Zahlen. Vielmehr verbirgt sich dahinter eine Warnung bezüglich schwieriger Marktbedingungen oder interner Unternehmenshindernisse.

Unternehmen, die solche Hinweise nicht wahrnehmen, riskieren, reale Herausforderungen zu unterschätzen und die Entwicklung einer rechtzeitigen geeigneten Strategie zu versäumen.

Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, auf Nichtgesagtes und Zögern als subtile Signale bei der Entscheidungsfindung zu achten. Wenn Führungskräfte und Manager diese Zeichen erkennen und analysieren, verbessern sie ihre Fähigkeit, auf Herausforderungen schnell und fundiert zu reagieren.

Es reicht nicht, offensichtliche Probleme zu lösen – vielmehr geht es darum, sie durch das Aufgreifen subtiler Hinweise zu antizipieren.

Um den Unterlassungseffekt zu kontrollieren, muss man manchmal einen Gang zurückschalten, auf schwache Signale hören und Bescheidenheit zeigen

Die unterschätzten Kosten der Untätigkeit

Der versteckte Preis des Unterlassungseffekts ist tückisch. Untätigkeit bewahrt kurzfristig einen beruhigenden Status quo, hat aber langfristig unsichtbare und zerstörerische Auswirkungen.

Während reaktionsfähige Wettbewerber agil auf Veränderungen im Marktumfeld reagieren, bleiben zögerliche Unternehmen zurück. Besonders in dynamischen Branchen wie Technologie oder Konsumgütern kann diese Untätigkeit fatal sein.

Ein weiterer unbewusster kognitiver Fehler, der die Untätigkeit verstärken kann, ist der sogenannte "Escalation of Commitment"-Effekt. Unternehmen halten aus Überzeugung an einmal getroffenen Entscheidungen fest – selbst wenn sich diese als ineffizient erweisen oder es bessere Alternativen gäbe. Zeitdruck und Erschöpfung verstärken diese Dynamik zusätzlich.

Wege aus der Untätigkeit

Um die negativen Auswirkungen des Unterlassungseffekts zu vermeiden, müssen Unternehmen lernen, subtile Hinweise zu erkennen und richtig zu deuten. Dazu gehört, Führungskräfte zu sensibilisieren.

Die blosse Kenntnis des Phänomens ist bereits ein wichtiger erster Schritt. Gleichzeitig ist es wichtig, eine proaktive Unternehmenskultur zu fördern, die Innovation, Mut und Agilität belohnt. Auch aktives Zuhören spielt eine entscheidende Rolle: Alle Stimmen im Unternehmen sollen gehört werden.

Schliesslich hilft der Einsatz von Szenarioplanung dabei, potenzielle Probleme frühzeitig zu erkennen und geeignete Massnahmen vorzubereiten. Eine Unternehmenskultur, die auf Achtsamkeit und offenen Austausch setzt, verhindert, dass Untätigkeit zum Hindernis wird.

Fazit: Untätigkeit hat ihren Preis

Untätigkeit ist nie ohne Folgen. Die Geschichte der "Challenger" zeigt eindrucksvoll, wie verheerend das Ignorieren schwacher Signale sein kann und zu menschlichen und organisatorischen Katastrophen führen kann.

Im Unternehmenskontext hat diese Untätigkeit einen verborgenen Preis: Während kurzfristig Ruhe gewahrt wird, wachsen langfristig Risiken und Wettbewerbsnachteile. Unternehmen, die Zeit investieren, um zuzuhören, zu handeln und auf schwache Signale zu reagieren, haben die besten Chancen, in einer sich ständig verändernden Welt erfolgreich zu sein.

Als Headhunterin stelle ich fest, dass die erfolgreichsten Unternehmen diejenigen sind, die bereit sind, mutige Entscheidungen zu treffen – auch bei Unsicherheit.

Der Unterlassungseffekt ist ein psychologisches Phänomen, das es zu überwinden gilt.

Für 2025 wünsche ich uns daher, dass wir uns mehr Zeit nehmen, um auf die anderen zu hören, auf ihre stillen Hinweise und auf das, was nicht gesagt wird. Dies könnte vielleicht der Schlüssel zum Erfolg sein.

Die Autorin: Claire Garwacki

Claire Garwacki, Managing Partner beim Headhunter Bellevue Executive Search

Claire Garwacki ist Managing Partner bei Bellevue Executive Search, dem Schweizer Headhunter für Finanzexperten. Sie verfügt über ein grosses Netzwerk, das sich von Chur bis Genf erstreckt, und hat mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung in der Personalvermittlung im Bereich Corporate Finance.

Ihr besonderes Engagement gilt der Förderung von Vielfalt und Chancengleichheit sowie der Fairness am Arbeitsplatz.