Wenn Big Techs und andere digitale Angreifer ganze Branchen innerhalb von wenigen Jahren disruptieren und umpflügen, sind andere Marktteilnehmer gezwungen, ihre eigenen Konzepte und Geschäftsmodelle infrage zu stellen.
Sie müssen reagieren, im besten Fall sogar agieren. Bei den bisherigen Platzhirschen und anderen Marktteilnehmer werden in der Regel drei unterschiedliche Szenarien beobachtet, die auch in Mischformen auftreten können:
Szenario 1: Schockstarre, Ignoranz und Niedergang
Die Marktgrössen der Vergangenheit beäugen die Entwicklungen in einer Mischung aus Ignoranz und Arroganz, geraten dennoch in Schockstarre, pochen trotzig auf angestammte Reche und halten analoge Traditionen hoch. In der Überzeugung, es lief doch ganz gut so in der Vergangenheit, deshalb soll alles so bleiben, wie es ist. Der Erfolg der früheren Tage und die eigene erreichte Grösse werden als Schutzschild gesehen, der Unheil und Gefahren abwenden wird.
Damit stellen diese wehrhaften Unternehmen die Weichen – das Unternehmen ist angezählt, es wird an Glanz und Grösse verlieren, im schlimmsten Fall über kurz oder lang untergehen.
Szenario 2: Falsche Schlüsse und halbherziges Reagieren
Die disruptierten Unternehmen verlegen sich aufs Beobachten. Sie beobachten lange. Und noch länger – so lange, bis sie ganz sicher sind, dass die Disruptoren nicht als Eintagsfliegen operieren, sondern laufend an Grösse gewinnen und den Beobachtern mehr und mehr des eigenen Terrains streitig machen.
Die hektisch initialisierten Projekte der betroffenen Unternehmen kommen in dieser Phase zu spät, gehen halbherzig eher in Richtung digitaler Optimierung und Detailkosmetik und haben deshalb schlicht nicht die Kraft, das Steuer herumzureissen. Für diese Unternehmen wird's schwierig, sie gehen mit ihrer Defensiv-Strategie mitten in einen lange währenden Kampf um Marktanteile, die laufend weniger werden.
Szenario 3: Agieren und selbst zum Disruptor werden
Die agile Fraktion der disruptierten Unternehmen fragt sich, weshalb sie selbst nicht schon längst zu Disruptoren im eigenen Markt geworden sind. Schnell und ohne Umwege werden digitale Strategien und neue Geschäftsmodelle entwickelt, welche Kunden und deren neue Wünsche ins Zentrum stellen.
Von den Disruptoren kann man lernen, von den Verweigerern ebenfalls – das Unternehmen definiert sich neu, durchläuft schmerzvolle Prozesse und wird selbst zum Disruptor innerhalb der eigenen Branche, mit neuen Geschäftsmodellen möglicherweise sogar über die eigene Branche hinaus.
Jedes Unternehmen schafft sich die Position für die eigene Zukunft selbst
Ohne den vielzitierten Kodak-Effekt einmal mehr strapazieren zu wollen: Ja, stimmt, grosse Konzerne sind besonders gefährdet, weil der Glaube in die eigene Grösse und die erfolgreiche Vergangenheit den Blick auf die Notwendigkeiten der Zukunft verstellen kann. Zudem ist ein Konzern mit mehreren zehntausend Mitarbeitern wie ein behäbiger Supertanker unterwegs, der das Steuer nicht von heute auf morgen herumreissen kann.
Auf der anderen Seite sind grosse Konzerne gegenüber den agil operierenden kleinen, digitalen Schnellbooten im Vorteil, weil sie über Kapital, globale Netzwerke, Personal, Brain und andere Ressourcen verfügen, die aktiviert und in neue Bahnen gelenkt werden können.
Sind festgefügte Konzern-Strukturen nicht schnell genug zu bewegen, bleibt jederzeit die Möglichkeit, mit digitalen Parallel-Konzepten und mit einer Startup-DNA im grossen Muster auf der grünen Wiese zu starten. Damit verschafft sich der Konzern Zeit, beginnt sich selbst und auch die eigene Branche zu disruptieren – und spielt im besten Fall vorne mit. Wenn nicht in der alten Welt, dann eben in der neuen. Mit einer klugen Strategie möglicherweise in beiden Welten.
Verharren in der Komfortzone und Artenschutz sind Relikte der Vergangenheit
Das Kodak-Beispiel oder auch der zeitweilige Niedergang der Musikbranche, welche nach dem Umpflügen durch Apple heute nach ganz anderen Regeln spielt, haben bereits in der Vergangenheit sichtbare Marken und Warnflaggen gesetzt. Andere Branchen wie Medien und Verlage, Taxi und Mobilität, Logistik, Finanzindustrie und weitere sind seit längerem "in Arbeit". Mit teilweise heute schon gravierenden Auswirkungen.
Etwas salopp gesagt: In zahlreichen Branchen wird in Zukunft tatsächlich kein Stein auf dem anderen bleiben. Die Marktführer von gestern sind nicht unbedingt die Leader von morgen. Neue Anbieter sowie Startups mit kreativen Ideen nutzen Chancen und öffnen Türen, die vor wenigen Jahren noch verschlossen waren. Und wie schnell Startups mit smarten Ideen zu Tech-Giganten werden können, hat die jüngere Geschichte mit zahlreichen Beispielen bewiesen.
Auch Disruptoren werden disruptiert – die Gefahr lauert oft im eigenen Hause
Jeff Bezos, der Gründer von Amazon, hat im November 2018 ein bemerkenswertes Statement zum Thema abgegeben, das als programmatische Ansage für Konzerne der alten und der neuen Welt dienen kann:
Amazon ist nicht zu gross, um zu scheitern. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass Amazon eines Tages scheitern wird. Amazon wird bankrott gehen. Wenn sie sich grosse Unternehmen ansehen, beträgt ihre Lebensdauer in der Regel mehr als dreissig Jahre, aber nicht mehr als hundert Jahre.
Und Bezos schiebt nach:
Wenn wir uns auf uns selbst konzentrieren, anstatt auf unsere Kunden zu fokussieren, ist das der Anfang vom Ende. Wir müssen versuchen, diesen Tag so lange wie möglich hinauszuschieben.
Wer disruptiert die Disruptoren von innen und von aussen?
Das Antwort ist einleuchtend und auch die Entwicklungen sind einfach zu begreifen, welche die Unternehmen der alten Welt beschäftigen, ohne die Disruptoren der digitalen Welt auszuschliessen:
Die Disruption ist im Gange, laufend, sie kommt von innen und von aussen. Zahlreiche Opfer stehen bereits fest, ebenso zahlreich sind die Gewinner. Nur sind deren Positionen nicht in Stein gemeisselt, Marktführerschaft muss jeden Tag neu errungen und bestätigt werden. Mit konkreten Leistungen. Wer den Kundenfokus aus den Augen verliert, wird auch im Markt verlieren.
Beispiel Uber und Lyft
Jeff Bezos hat bereits formuliert, wer Amazon gefährlich werden könnte – Amazon selbst. Aktuell sind die global dominierenden Fahrdienstunternehmen Uber und Lyft in argen Nöten – nicht durch neue Konkurrenten, sondern durch den kalifornischen Senat. Der hat in diesen Tagen ein Gesetz zur Gig Economy verabschiedet, das Uber und Lyft zwingen könnte, ihren Fahrerinnen und Fahrern den Status von echten Angestellten zu geben. Das würde dann heissen: Mindestlöhne, Unfallversicherung und mehr.
Kommt es dazu in Kalifornien, werden weitere Staaten und Länder dem Beispiel folgen. Die Geschäftsmodelle von Uber und Lyft basieren darauf, eben gerade keine festen Angestellten zu beschäftigen, sie setzen auf die Gig Economy. Das Gesetz disruptiert das Geschäft der Disruptoren und wird von Uber und Lyft deshalb entschlossen bekämpft.
Beispiel Libra
Dem Gewicht von Gesetzen und vor allem dem Gegenwind von Politik und Regulatoren ist aktuell auch die Libra Association mit ihrem Projekt der globalen digitalen Währung Libra ausgesetzt. Geplant ist der Start im Juni 2020. Wird der Disruptor schon vor seinem Start wegreguliert, werden andere Disruptoren in die grossen Fussstapfen des Libra-Projekts treten, die Idee ist damit nicht vom Tisch.
Immerhin sind einige Staaten auf die Idee gekommen, die Libra-Idee aufzunehmen und eine europäische Digitalwährung zu etablieren. Damit würden die Staaten selbst zu Disruptoren der Disruptoren, wenn auch auf andere Weise.
Beispiel Challenger-Banken
Die Neo-Banken N26 und Revolut blasen seit vier Jahren zum Angriff und haben aus kleinen Anfängen Smartphone-Banken mit beträchtlicher Grösse geschaffen, welche in ganz Europa und in den USA operieren. Zahlreiche weitere erfolgreiche Challenger-Banken wie Atom, Monzo und andere expandieren ebenfalls. In der Schweiz ist Neon seit einigen Monaten im Markt, N26 eben erst gestartet, Revolut seit längerem inoffiziell aktiv und Yapeal steht in den Startpflöcken. Dazu kommen Big und kleinere Techs wie Apple, PayPal, Klarna, Transferwise und weitere, welche ihre Leistungen im Bereich Finanzen, teilweise fast unbemerkt (!), laufend stark erweitern.
Die Antwort der traditionellen Banken hat lange auf sich warten lassen, mit zwei, allerdings speziell gelagerten Ausnahmen: Die Hypothekarbank Lenzburg hat sich mit verschiedenen Kooperationen als Vorreiterin im Open Banking einen Namen gemacht, die Bank Cler hat mit Zak eine Smartphone-Bank auf den Markt gebracht. Darüber hinaus war bis anhin wenig zu hören, ausgenommen die üblichen Digitalisierungs-Geräusche und die Ankündigung von digitalen Optimierungen. Eine Challenger-Bank mit Biss aus den Reihen der etablierten Banken war nicht in Sicht.
Das könnte sich ändern. Zieht die Credit Suisse das Projekt einer digitalen Bank auf der grünen Wiese tatsächlich durch, kann diese neu gedachte Bank zum Disruptor werden. Weniger für bestehende und neue Challenger-Banken, mehr für andere traditionelle Banken – und für die CS selbst, Disruption von innen eben. Kommt das Projekt mit den kommunizierten hohen Budgets, entwickelt ausserhalb der Strukturen der CS mit einer wirklichen Startup-Denke, dann kann etwas Grosses entstehen.
Damit würde die Phalanx der Challenger-Banken um einen Mitstreiter mit Gewicht erweitert – eine Phalanx, die in den Beständen der etablierten Banken wildert und deshalb auch andere traditionelle Banken unter Zugzwang setzt.
Die Aufzählung der neuen und alten Disruptoren kann erweitert werden und wird sich laufend selbst erweitern, es ist sehr viel Bewegung in den Märkten.
Disruptoren sind gefordert und müssen ihren Vorsprung verteidigen
Auch Disruptoren geniessen keinen Artenschutz. Die disruptive Kraft der Angreifer bringt Märkte und Exponenten in kreative Unruhe, löst Gegenbewegungen und neue Strömungen aus, welche wiederum den ursprünglichen Disruptoren gefährlich werden können.
Das ist gut. Und das ist fair – wenn auch anstrengend für die Macher aus den verschiedenen Lagern. Das schafft Chancen für alle. Für etablierte Unternehmen, für Startups, für bestehende und für neue Disruptoren. Für alle, welche die digitalen Zeichen der Zeit wirklich verstanden haben und sich auf die Wünsche und Bedürfnisse von Konsumenten und Kunden konzentrieren.
Wer Komfort, smarte Lösungen, flexible Tools und neue Services anbietet, wird das Rennen machen. Wer dranbleibt, diese Lösungen mit fairen und transparenten Preisen in den Markt stellt und sich deshalb als ehrlicher und vertrauenswürdiger Partner erweist, wird im Rennen bleiben.
Wer all das nicht tut oder im Glauben an die eigene Grösse und Unverwundbarkeit selbstgefällig im Status quo verharrt, wird in die Geschichte eingehen – ohne selbst als aktiver Teilnehmer an dieser Geschichte mit neuen und selbstgeschriebenen Kapiteln mitzuwirken.