Amazon lässt in Sachen Technologie nichts anbrennen und deshalb auch in der Lieferkette keine Lücken offen. Bis zur Haustüre hat Amazon immer schon geliefert. Die zusätzliche Paketstation im eigenen Wohnblock, The Hub, haben wir kürzlich als "das letzte Glied in der Bestell-, Bezahl- und Lieferkette" bezeichnet – damit lagen wir falsch, es war (vorderhand) das zweitletzte. Amazon erweitert sein gigantisches Ökosystem, geht über die Türschwelle und liefert nun direkt in die Wohnung.
Amazon Key – was es ist
"In-Home Delivery" nennt Amazon die neue Serviceleistung. Der Kunde kauft das Hardware Kit, Amazon Key, für 250 US-Dollar, lässt sich das intelligente Türschloss fachgerecht an der Haustüre montieren und hat ab sofort einen Türwächter mit Namen Amazon. Der Tech-Gigant übernimmt damit die Kontrolle über Öffnung und Schliessung.
In der ersten Phase ist das System dafür gedacht, Pakete nicht nur an die Haustüre zu bringen oder vor die Türe zu legen, wenn die Kunden nicht zu Hause sind, sondern über die Türschwelle direkt in die Wohnung zu legen. Damit ist das Paket sicher deponiert und die Lieferung selbst wird überwacht und aufgezeichnet.
Wie es funktioniert
Das In-Home Kit besteht in der Basisausstattung aus dem intelligenten Türschloss (Smart Lock), einer Cloud Cam( Innenraum-Sicherheits-Kamera) und einer App.
Der Paketbote selbst hat keinen Zutrittscode, die Türöffnung erfolgt über das Internet. Vor der Haustüre fordert der Bote über einen verschlüsselten Prozess den Zugang an, Amazon prüft den Standort und die Legitimation des Zustellers und entriegelt die Türe. Öffnet der Paketbote die Türe, startet im Innenraum die Sicherheitskamera und zeichnet den Vorgang auf, wie der Bote das Paket im Innenraum deponiert. Parallel dazu wird der Kunde über die App informiert, dass sein Paket geliefert wird, der Kunde kann sich das Video der Lieferung direkt anschauen.
Was Amazon Key sonst noch kann
Familienmitglieder haben selbstverständlich über ihren Code uneingeschränkten Zugang, die Türe kann sich jedoch auf Wunsch auch für andere Besucher öffnen.
"No more hiding keys under the mat", sagt Amazon und bietet an, auch Freunden und Gästen kontrollierten und befristeten Zutritt zur Wohnung zu gewähren. Zum Beispiel wenn die Gastgeber im Stau stecken, erhalten Gäste Zutritt zu Haus und Wohnung und sind vor den Gastgebern im Haus. Kunden können Zeitfenster festlegen, wer zu welcher Zeit offene Türen vorfindet.
Amazon bietet zusätzlich an, einer Vielzahl von Dienstleistern die Türe zu öffnen, wenn der Kunde nicht zu Hause ist. Zum Beispiel der Reinigungskolonne, Handwerkern und anderen Dienstleistern, die befristet im Hause wirken sollen. Es versteht sich von selbst, dass diese Profis direkt über "Amazon Home Services" gebucht werden können. Ein Service, der ebenfalls von Amazon kontrolliert wird und nach Angaben des Unternehmens zehntausende von Dienstleistern aller denkbaren Sparten vereinen soll.
Hardware, Software und Services rund um Amazon Key werden mit Sicherheit und eher schnell erweitert. Mit Alexa sitzt Amazon bereits in der Wohnung, mit Amazon Key werden Haus und Wohnung von aussen und von innen erobert. Keine Frage, dass im Bereich Smart Home noch unzählige Varianten und Spielformen machbar sind, die von Amazon nach und nach angeboten werden.
Wer es nutzt und wem es nützt
Amazon Key startet am 8. November und ist vorerst in 37 US-Städten für Amazon Prime-Abonnenten verfügbar. Der weitere geografische Ausbau dürfte zügig erfolgen. Das System bringt für Nutzer viel neuen Komfort und Sicherheit – gleichzeitig jedoch auch die Übergabe der Kontrolle über das eigene Haus an Amazon.
Zudem liefert ein Kunde, bewusst oder unbewusst, jede Menge an Daten über seine Gewohnheiten und Verhaltensweisen an Amazon. Zählt er bereits Alexa zu seinen Mitbewohnern, wird die Datenlawine durch Amazon Key noch dichter.
Amazon hat in den Verträgen (von uns nicht gelesen) sicher irgendwo das Versprechen festgehalten, konsequent im Auftrag und im Interesse der Hausherren zu handeln. Das wird auch so geschehen, Amazon fokussiert sehr stark auf Bedürfnisse und Wünsche seiner Kunden. Dennoch ein irritierender Gedanke, dass der Kunde mit Amazon Key die Hoheit über seine Wohnungstüre aus der Hand gibt und (theoretisch) vom System zu Hausarrest verdonnert werden könnte. Wann die Türe aufgeht und wann eben nicht, entscheiden nicht mehr allein die Bewohner, das Mastersystem hat die absolute Kontrolle und damit das letzte Wort.
Was das für die Finanzbranche bedeuten kann
Auf den ersten Blick nicht so viel, es sei denn, eine Bank möchte ihren Kunden ein Präsent direkt in die Wohnung legen lassen. Auf den zweiten Blick hat auch Amazon Key, als Baustein der Amazon-Strategie, eine Bedeutung, die weit über ein Schliesssystem für Türen hinausgeht.
Jeff Bezos strickt ein Netz, das in Branchenvarietät, Gütern, Beschaffung und Logistik (Land, Luft und Wasser) immer dichter wird. Auf der Seite der Kunden, für Konsumenten, unterhält und erweitert Amazon ein Ökosystem, das immer weniger Lücken aufweist. Was fehlt, wird dazuentwickelt, Lücken werden geschlossen. In einem atemberaubenden Tempo.
Alles, was Amazon tut, hat letztenendes mit Geld und mit Zahlungsverkehr zu tun. Geld, das vorhanden ist, und deshalb von Kunden überwiesen wird, um die Amazon-Rechnung zu bezahlen. Oder Geld, das nicht vorhanden ist, und deshalb den nächsten Kauf bei Amazon verhindert. Es sei denn, es stehen attraktive Angebote zur Verfügung, um kurzfristig online Kredite zu beschaffen. Oder Geld, das im Überfluss vorhanden ist, und deshalb durch interessante Anlageoptionen vermehrt werden könnte.
Die Amazon-Strategie: Lücken im Ökosystem werden konsequent geschlossen
Zahlungsabwicklung beherrscht und perfektioniert Amazon schon länger, um für Millionen von Kunden Einkaufen und Bezahlen schnell und komfortabel zu gestalten. Bei erweiterten Finanzangeboten bestehen aktuell noch Lücken. Die Erfahrung der letzten Jahre jedoch zeigt: Amazon lässt keine Lücken offen. Ob Beschaffung, Logistik, IT, Lieferung oder Zahlung – Amazon setzt in der gesamten Prozess- und Wertschöpfungskette nur so lange auf Kooperation, wie unbedingt nötig. Sobald wie möglich wird die Kette geschlossen durch Services mit eigener Handschrift unter dem eigenen Dach. Um die Kontrolle von A bis Z im eigenen Hause zu haben und um Ökosysteme zu bauen, die in sämtlichen Bereichen harmonisch und lückenlos ineinandergreifen. Da bleibt wenig Raum für Drittanbieter von aussen.
Das heisst nicht unbedingt, dass Amazon nächstens zur Bank wird. Aber die für jeden überprüfbare und sichtbare Strategie von Amazon zeigt: Jeff Bezos wird den Bereich rund um Geld, Zahlung, Finanzierung und Anlegen auf Dauer weder Banken noch anderen Finanzspezialisten überlassen. Erst was im eigenen Konzern kontrolliert werden kann, macht aus der Sicht von Amazon Wertschöpfungsketten wirklich stark und Ökosysteme wirklich rund – und lukrativ. Dazu kommt, dass Amazon im Entwickeln und Lancieren neuer Produkte und Services ein Tempo vorlegt, bei dem nur wenige Partner oder Drittanbieter mithalten können. Auch deshalb entscheidet sich der Taktgeber in letzter Konsequenz für die eigene Lösung. Die Leute aus Seattle warten auf niemanden, sie überholen links und rechts und erobern Märkte.
Amazon Key: Wie es funktioniert und was es kostet