Digitalisierung

Replay TV: Das ambivalente Verhältnis von TV-Sendern zur Digitalisierung

TV-Studio mit Kameras
Bild: Grafissimo | Getty Images

TV-Sender quengeln, wollen zeitversetztes Fernsehen einschränken oder Provider für entgangene Werbeeinnahmen bezahlen lassen. Warum die unkreative Initiative eine ganz schlechte Idee ist und der Schuss kräftig nach hinten losgehen könnte.

Die in den Medien aktuell breit geführte Diskussion um TV-Sender, Replay TV und Kabelnetzbetreiber greift etwas zu kurz. Zumindest werden zentrale Kernpunkte schwach bis gar nicht thematisiert.

Die Zeichen der Zeit und der Digitalisierung lassen sich auf verschiedene Arten deuten. Man kann zum Beispiel mit neuen Ideen und Geschäftsmodellen darauf reagieren, um sich erweiterte Chancen in veränderten Märkten zu sichern. Am besten gestern schon, ganz sicher und dringend heute, damit die eigene Zukunft aktiv gestaltet werden kann.

Oder man kann sich trotzig gegen die Entwicklung stemmen, das bisher Erreichte verzweifelt verteidigen, Scheuklappen anlegen und so weitermachen wie bisher, um dann möglicherweise irgendwann mit Pauken und Trompeten unterzugehen. Für das eine wie das andere gibt's in der Wirtschaft Beispiele zuhauf.

TV-Sender verteidigen Konzepte und Ansprüche der Vergangenheit

Fernseh-Sender fahren aktuell eine gemischte Strategie. Wer TV-Studios, Schnitträume oder Übertragungswagen von innen kennt, der weiss, dass TV-Sender extrem digital funktionieren und produzieren.

Auf der anderen Seite ist den Fernseh-Machern das digitale Verhalten ihrer Zuschauer ein gewaltiger Dorn im Auge. Weil das zeitversetzte Fernsehen, inklusive Überspulen der Werbeblocks, ihre gewohnten Werbeeinnahmen reduzieren könnte.

Die Branche operiert denn auch mit konkren Zahlen, Verlusten und Umsatzeinbussen, die jedem analogen TV-Heimatschützer mit Herz die Tränen in die Augen treiben. 110 Millionen Franken sollen der Branche durch Replay TV entgangen sein. Hinter diese 110 Millionen Mindereinnahmen darf allerdings noch ein Fragezeichen gesetzt werden. Während zum Beispiel Print-Werbung laufend verliert, haben sich die Umsätze von TV-Werbung in den letzten Jahren vergleichsweise sehr gut gehalten.

So oder so, es könnte weniger werden, deshalb verfolgen TV-Sender, nationale und internationale, eine sehr seltsame Idee in zwei Varianten:

Variante 1: Zuschauer werden zum Werbekonsum verdonnert
Die Zuschauer haben gefälligst ihr digitales Verhalten zu ändern. Das Überspulen der TV-Spots ist eine einnahmenmindernde Sünde, ein Sakrileg, dem frevelhaften Tun gehört Einhalt geboten. Replay TV wird eingeschränkt oder abgeschafft, Fernseh-Zuschauer haben TV-Werbung zu konsumieren und zu erdulden, egal, was ihnen da zugemutet wird.

Variante 2: Irgendwer muss den entstandenen "Schaden" bezahlen
Sollten sich die TV-Zuschauer renitent zeigen und weiterhin ungeliebte Werbeblocks überspulen wollen, dann muss jemand anders blechen für die TV-Spots, die nicht mehr gebucht werden, weil keiner sie sehen will. Dazu werden die Provider und Kabelnetzbetreiber in die Pflicht genommen, welche ihren Abonnenten Replay TV ermöglichen. Die sollen zahlen und die TV-Sender für die entgangenen Einnahmen entschädigen.

Das Geschäftsmodell mit Auslauf- und Verfallsdatum

Die eine wie die andere Variante darf man sich auf der Zunge zergehen lassen – und sich wundern.

Zeitversetztes Fernsehen liegt im Zeitgeist, im Trend und wird noch sehr viel stärker zunehmen. Richtig ist, dass Provider wie Swisscom, UPC und andere ihren Abonnenten durch Replay TV die Möglichkeit des zeitversetzten Fernsehens und des digitalen Vorspulens verschaffen. Diese Möglichkeit wird auch genutzt. 

Werden dabei Werbeblöcke und TV-Spots überspult, bedeutet das: Zuschauer erlauben sich, ein Angebot nicht zu nutzen, weil es sie offenbar langweilt oder zu wenig attraktiv ist, um konsumiert zu werden. Mit anderen Worten: TV-Sender verkaufen ihren Werbekunden Spots, TV-Zuschauer "kaufen" und konsumieren diese aber nicht. Sie schauen weg und spulen vorwärts. Das mag von TV-Sendern als ignorant, dreist, böse und geschäftsschädigend empfunden werden – es ist aber schlicht eine Realität.

Aus dieser digitalen Möglichkeit und dem Verhalten der Zuschauer einen "Schaden" abzuleiten, auch zu beziffern und einen zu suchen, der dafür bezahlt, bedeutet im Klartext: TV-Sender glauben einen Anspruch darauf zu haben, dass ihr Geschäftsmodell der Vergangenheit auch in Zukunft unverändert funktioniert. Und weil es möglicherweise nicht mehr funktionieren wird, soll jemand dafür bezahlen. Im aktuellen Fall die Kabelnetzbetreiber.

Denken in Alternativen und neuen Modellen ist aktuell nicht gefragt

Notwendig wäre, darüber nachzudenken, weshalb TV-Werbung überspult wird. Ist sie schlecht? Zu wenig unterhaltsam? Zu plump? Sind minutenlange Werbeblöcke mit TV-Spots in Serie als Produkt zu fantasielos, als Angebot einfach überholt? Oder gibt's ganz andere Gründe? Für etwas wirklich Gutes mit Unterhaltungswert oder konkretem Nutzen sind TV-Zuschauer sicher empfänglich, das würden sie nicht wegspulen – wird hier also möglicherweise das falsche Produkt verkauft? Welches Produkt wäre dann das Richtige?

Innovative Produkte, neue Geschäftsmodelle und damit neue Ertragsquellen sind gefragt, um das Fernsehen der Zukunft auf einem soliden Boden produzieren zu können.

So weit möchten die TV-Sender jedoch nicht gehen. Sie blenden Zeitgeist und neue Verhaltensweisen ihrer Zielgruppen aus, setzen auf die Modelle, die sich in den letzten zwanzig Jahren bewährt haben und suchen eine externe Geldquelle, welche die Fortführung der traditionellen Modelle finanzieren soll.

Deshalb lobbyieren sie in Bundesbern, finden in der Rechtskommission des Nationalrats offene Ohren und möchten nun gegen die Kabelnetzbetreiber antreten, um das eigene Unvermögen finanziert zu bekommen.

Der Schuss könnte gewaltig nach hinten losgehen

TV-Zuschauer werden ihr Verhalten nicht ändern. Im Gegenteil, zeitversetztes Fernsehen wird noch zunehmen. Ein Blick in jede verfügbare Studie genügt, um diesen Trend zu verifizieren. Variante 1 kann deshalb gestrichen werden.

Bleibt also Variante 2: Provider und Kabelnetzbetreiber könnten dazu verpflichtet werden, TV-Sendern entgangene Einnahmen für ein nicht gewünschtes und nicht konsumiertes Produkt (!) zu finanzieren. Nur: Diese Ausgaben müssten sie in die Abo-Preise ihrer Kunden einrechnen, damit würde der TV-Konsum für Zuschauer teurer – ohne Mehrleistung.

Damit wären Provider und Fernseh-Zuschauer gewissermassen gemeinsam in Geiselhaft: Sie müssten zusätzlich und mehr dafür bezahlen, dass sie weiterhin vorspulen dürfen und nicht gezwungen werden, ungeliebte Werbeblöcke anschauen zu müssen.

Dieses ziemlich unkreative Konzept könnte eine bereits laufende Entwicklung massiv beschleunigen und Zuschauer, nicht nur die jüngeren, in die Arme von Anbietern treiben, die über Zielgruppen, Gewohnheiten, Digitalisierung und den TV-Konsum der Zukunft nachgedacht haben. Netflix und Co. werden sich freuen, ehemalige TV-Zuschauer auch und Provider ebenfalls. 

Letztere deshalb, weil es Kabelnetzbetreibern völlig egal ist, ob sie die Signale des sich gerade selbst abschaffenden klassischen Fernsehens oder jene von Netflix und Co. übertragen, Hauptsache, Qualität und Tempo stimmen. Provider haben schon länger begriffen, was Konsumenten wollen, weil sie sehr nahe an ihren Kunden agieren. Einige TV-Sender tun sich da schwerer, sie verteidigen eine alte Welt, fordern alte Rechte ein und beweinen entgangene Erlöse, die mit den Rezepten von gestern für die Konsumenten von heute nicht kompensiert werden können.

Der Streaming-Markt holt in der Schweiz erst Anlauf

Was zum Beispiel in den USA oder in China viel weiter fortgeschritten ist, wird sich auch in der Schweiz zunehmend schneller entwickeln. Die aktuelle Grafik zeigt die nutzbaren Potenziale in der Schweiz.

Der Kampf des klassischen Fernsehens gegen neue Nutzerverhalten, gegen innovative Streaming-Plattformen und deren Angebote, ist nicht zu gewinnen. Er ist bereits entschieden. Die Frage ist vielmehr, ob und wie heutige TV-Sender mit innovativen Modellen und Angeboten im Streaming-Markt der Zukunft eine Rolle spielen werden. Oder eben auch nicht. Mit der aktuellen Strategie wird eine starke Position nicht zu schaffen sein.