Bei allem Rummel um saubere Energieunternehmen gehen traditionelle Firmen wie Total oder Shell oft unter. Zu Unrecht, meint Esty Dwek, und verweist unter anderem auf deren Investitionen in erneuerbare Energien.
Der Energiesektor wird von einigen wenigen bekannten, traditionellen Unternehmen beherrscht: Exxon Mobil und Chevron in den USA sowie BP, Shell und Total in Europa. Auf der anderen Seite gibt es milliardenschwere Unternehmen wie NextEra Energy, SolarEdge Tech, clearway Energy, Plug Power und Brookfield, die auf erneuerbare Energien setzen.
«Oft haben Anlegerinnen und Anleger das Gefühl, sich zwischen den traditionellen und den sauberen Energieunternehmen entscheiden zu müssen», beobachtet Esty Dwek, CIO von FlowBank. Und da letztere sowohl in Bezug auf das «E» und das «S» von ESG besser abschneiden, seien sie oft die erste Wahl. «Doch in diesem Jahr ist die Entscheidung schwieriger, da saubere Energie nach einer Rallye vor den US-Wahlen gelitten hat. Ein Grossteil von Bidens erwarteter Agenda ist bereits eingepreist, und die Anlegerinnen und Anleger warten nun auf die tatsächlichen Ausgabenpläne», erklärt Dwek.
Ausserdem werden saubere Energieunternehmen gegenüber ihrer Konkurrenz mit einem traditionellen Geschäftsmodell mit einem Aufschlag von 70% auf das EV/EBITDA gehandelt. Die grossen Unternehmen haben in der Regel niedrigere Kurs-Gewinn-Verhältnisse als ihre Pendants aus dem Bereich der sauberen Energie und zahlen höhere Dividenden. Der Grund dafür sei, dass sie gewöhnlich reifer, etablierter und rentabler sind. «Dazu kommt, dass traditionelle Energieunternehmen zunehmend in erneuerbare Energien investieren, unter anderem um die Energiewende zu schaffen oder um gesetzliche Regularien einzuhalten. Und da die Ölpreise weiter steigen, ist das Potenzial für Energieaktien offensichtlich», so Dwek.
Outperformance bis 2022
Verglichen mit anderen Anlageklassen haben Rohstoffe in diesem Jahr am besten abgeschnitten und so hohe Renditen erzielt wie seit Anfang der 2000er Jahre nicht mehr. Die Preise von Metallen und anderen Werkstoffen sind wegen der anhaltenden Unterbrechungen in den Lieferketten in die Höhe geschnellt. Das hat sich aufgrund des Margendrucks in der Industrie und bei den Werkstoffen auf die Aktienkurse ausgewirkt. Doch Energieaktien seien nicht nur in diesem Szenario rentabel.
«Die Wiederbelebung der Wirtschaft hat dem Energiesektor in den letzten Wochen eine Outperformance beschert, die sich bis 2022 fortsetzen dürfte», schätzt Dwek. In Europa habe die Energiekrise dazu beigetragen, den MSCI Energy Index im Einklang mit der zyklischen Rotation zu stärken. Und trotz der jüngsten Entwicklung glaubt die Expertin, dass der europäische Energiesektor noch immer unterbewertet ist.
Grösseres Aufholpotenzial in Europa
Vor dem Hintergrund der Energiekrise in Europa und des nahenden Winters dürfte sich der Energiesektor gemäss der Anlagestrategin weiter erholen. Dies gelte insbesondere für den europäischen Index, der ein grösseres Aufholpotenzial zu haben scheine als sein amerikanisches Pendant. Denn normalerweise folge der MSCI EU Energy Index eng dem Brent-Preis, was aber noch nicht der Fall sei.
Zudem wird der erwartete Gewinn je Aktie (Forward Earnings per Share, EPS) des MSCI EU Energy Index laut Bloomberg auf 114% geschätzt. Im Vergleich zu einem relativ niedrigen Kurs-Gewinn-Verhältnis dürfte das auf mehr Wachstumsspielraum hindeuten. Und angesichts einer jährlichen EPS-Wachstumsrate von 3,1% in Europa gegenüber 2,9% in den USA sei auch der Anstieg der Renditen von europäischen Aktien bis zum Jahresende ermutigend.
«Ausserdem gehen wir davon aus, dass die Nachfrage nach Rohöl im 4. Quartal stark bleiben wird, da sich die Weltwirtschaft weiter erholt und wieder in Gang kommt. Im Moment beschränkt die OPEC+ das Angebot noch und die USA lehnen es ab, ihre Reserven einzusetzen, was die Preise ebenfalls stützt», sagt Dwek.
Öl-Multi Total setzt auf Alternativen zu Öl
Die Energiewende führe zwar zu einem stetigen Rückgang der Ölmengen, der bis 2030 30% erreichen könnte. Der europäische Gigant Total ist jedoch der Ansicht, dass ein geringeres Ölvolumen nicht unbedingt mit einem geringeren freien Cashflow gleichzusetzen sei. Total rechnet mit einem Anstieg des freien Cashflows um 1,5 Mrd. USD in den Bereichen Flüssiggas, Strom und anderen erneuerbaren Energien sowie mit Kosteneinsparungen in Höhe von 1 Mrd. USD. Mehr als die Hälfte der Einnahmen soll in den nächsten fünf Jahren aus Nicht-Öl-Produkten stammen.
«Das deutet auf eine Konvergenz zwischen sauberer Energie und grossen Unternehmen hin. Entsprechend könnte das dazu führen, dass Investoren traditionelle europäische Energieunternehmen als Gewinner sehen, solange diese weiterhin eng mit ihren Partnern im Bereich der sauberen Energie zusammenarbeiten», kommentiert Dwek.