Wie hoch waren die Chancen, dass Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein wichtiger Akteur in der Startup-Welt wird? Wer hätte darauf gewettet, dass Berlin zu einem der wichtigsten Ökosysteme des "alten Kontinents" werden würde, das jedes Jahr Hunderte von jungen, talentierten Unternehmern anzieht? Damals waren Europa im Allgemeinen und Berlin, London oder Paris im Besonderen eine Gründerwüste. Es gab nichts oder zumindest so gut wie nichts.
In nur zwei Jahrzehnten hat sich die Landschaft der Startups und Risikokapitalinvestitionen in Europa bis zur Unkenntlichkeit verändert. Heute kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Europa eine der dynamischsten Startup-Szenen der Welt ist, wenn man verschiedene Indikatoren betrachtet.
Die Wahrheit ist, dass das alles für Europa sehr langsam begann. Was Neugründungen und Risikokapitalfinanzierung betrifft, so war Europa im Vergleich zu den Vereinigten Staaten eindeutig ein Spätstarter. Schätzungen zufolge haben die USA seit 1995 rund 1,2 Billionen EUR über Risikokapital in Startups investiert. In Asien wurden im gleichen Zeitraum 400 Mrd. EUR eingesetzt, während es in Europa nur rund 190 Mrd. EUR sind.
Dieser beträchtliche Unterschied ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die USA bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedes Jahr Milliarden in Startups investierten und Europa dabei buchstäblich leer ausging. Erst gegen Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts begann der alte Kontinent (mehr oder weniger zeitgleich mit China), reife Ökosysteme für Startups zu entwickeln.
Heute kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Europa eine der dynamischsten Startup-Szenen der Welt ist
Fast 100 Einhörner und rekordverdächtige Finanzierungsrunden
Seitdem hat dieser Trend an Dynamik gewonnen. Städte wie Berlin und London sind heute die europäischen Top-Ziele für junge Disruptoren. Im Jahr 2017 sagte der neu gewählte französische Präsident Emmanuel Macron bekanntermassen, er wolle «Frankreich zu einer Startup-Nation machen». Und spätestens im September dieses Jahres haben beispielsweise zwei französische Technologie-Startups – Sorare und Mirakl – zusammen mehr als 1 Mrd. USD eingesammelt.
Dies sind keine Einzelfälle. In Europa gibt es inzwischen fast 100 Einhörner, die über den ganzen Kontinent verteilt sind. Und Unternehmen wie Gorillas in Deutschland, Lendable aus dem Vereinigten Königreich oder Bitpanda in Österreich erhielten ihren Einhorn-Status im Jahr 2021 dank rekordverdächtiger Finanzierungsrunden. Es wird geschätzt, dass die Zahl der entwickelten Ökosysteme zwischen 2013 und 2019 von vier auf 84 gestiegen ist.
Vier europäische Länder in den Top 10 der VC-Zentren
Heute ist es klar, dass die nächsten grossen europäischen Gewinner überall auf dem Kontinent entstehen können. Die Vielzahl von Innovationszentren, ein breites Spektrum an Mentalitäten und Kulturen in Verbindung mit einem grossen Pool an Talenten machen Europa zu einem immer fruchtbareren Boden für Innovationen. Im Jahr 2020 wurden 38 Prozent des gesamten weltweiten Startkapitals von europäischen Startups aufgebracht (gegenüber 36 Prozent in Nordamerika, 16 Prozent in Asien und 10 Prozent im Rest der Welt). Weltweit gehören vier europäische Länder zu den Top 10 der VC-Zentren: Vereinigtes Königreich, Deutschland, Frankreich, Schweden. Und Europa liegt im weitesten geografischen Sinne nun sehr nahe an China, der Nummer zwei nach den USA.
Was also hat sich in den letzten zwanzig Jahren in Europa verändert? Die Antwort ist recht einfach und liegt in der Tatsache begründet, dass die siebenundzwanzig Länder (plus eins) allmählich das alte Image eines Kontinents ablegen konnten, der zwar innovativ ist, dem es aber an Kommerzialisierungskraft mangelt und auf dem die Gründung eines neuen Unternehmens mühsam, fragmentiert und teuer ist.
Früher war es so, dass europäische Unternehmen viel Geld für die Markteinführung ausgeben mussten, um das gewünschte Wachstum zu erreichen, wenn sie auf dem Weltmarkt Fuss fassen wollten. Die Kosten lagen weit über dem, was in den USA erforderlich war. Dies führte in der Regel zu Frustrationen in der Verwaltung und endete damit, dass grosse Teile des Unternehmens in die Küstenregionen der USA (insbesondere in die Bucht von San Francisco) verlagert wurden. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass dies nicht mehr der Fall ist. Die USA sind teurer geworden. Daher setzen europäische Startups viel weniger ihrer Teams und Ressourcen für einen Start in den USA ein (ein kleinerer "Fussabdruck" vor Ort) und nutzen die Vorteile der freundlicheren europäischen Verwaltungen.
Junge Unternehmen in Europa schaffen jedes Jahr 10 Prozent mehr Arbeitsplätze als das Baugewerbe, der Immobiliensektor und der Informations- und Kommunikationssektor
Interessantes Umfeld für Investorinnen und Investoren
Mit anderen Worten: Europa hat es in den letzten zwei Jahrzehnten geschafft, die Kosten für die Gründung von Startups erheblich zu senken. Diese Verbesserungen haben sich ausgezahlt. Junge Unternehmen in Europa schaffen jedes Jahr 10 Prozent mehr Arbeitsplätze als das Baugewerbe, der Immobiliensektor und der Informations- und Kommunikationssektor. Schätzungen zufolge werden im Jahr 2020 zwei Millionen Menschen in der europäischen Technologiebranche beschäftigt sein, 43 Prozent mehr als 2016, und bis 2025 werden es über drei Millionen sein.
Die Politiker sind sich der Kraft, die Europa im Bereich der Startups freisetzt, sehr wohl bewusst. Ihre Unterstützung ist gross und es ist schwer vorstellbar, dass sie sich in absehbarer Zukunft abschwächen wird. Damit hat Europa seine Position auf der Weltbühne der Innovationen und Innovatoren gestärkt und formt im Rennen mit China und den USA seinen Anspruch am Markt für Startups.
Ein solch innovatives Umfeld ist folglich für Investorinnen und Investoren sehr interessant. Es gibt ein breites Spektrum an europäischen Risikokapitalfonds, die dem interessierten Investor Zugang geben. Einige davon sind etablierte Namen, aber neben diesen grossen Akteuren gibt es auch eine Vielzahl kleinerer Fonds, die sich auf bestimmte technologische Segmente spezialisiert haben und direkt oder über eine Dachfondsstruktur organisieren. Der Dachfonds-Ansatz ist in diesem Fall sinnvoll, da er den Zugang zu einer sehr grossen Anzahl von europäischen Startups bietet und damit der Diversifikation Rechnung trägt.