Diversity

Gedanken zum Jahresende: Lehman Brothers vs. Lehman Sisters

Banker im Börsencrash
Bild: Sarinyapinngam | Getty Images

Prägende Ereignisse neu gedacht: Valérie Vuillerat regt in ihrem bemerkenswerten Essay zur gedanklichen Auseinandersetzung mit einer spannenden These an.


Wieso Diversität für die Gestaltung einer digitalen Zukunft so wichtig ist

Vor einigen Wochen jährte sich der Zusammenbruch der einst stolzen Wallstreet-Bank Lehman Brothers und damit die epochale weltweite Finanzkrise zum 10. Mal. Einzelne Chronistinnen haben in diesem Zusammenhang gerne die etwas zynische Frage in den Raum gestellt, ob Lehman Sisters, also ein von weiblichen Führungskräften geführtes Institut, wohl ein ähnliches Schicksal ereilt hätte. 

Natürlich ist die Frage hypothetisch. Viele wissenschaftliche Studien deuten aber durchaus in eine ähnliche Richtung. Alle weisen nicht nur empirisch nach: Organisationen mit einer hohen Diversität in ihren Teams sind signifikant erfolgreicher als ihre homogenen Mitbewerber.

Im Falle von Lehman Brothers hätte eine ausgewogene Durchmischung zur Schärfung von multilateralen Betrachtungen und einer massvolleren Abwägung von Risiken geführt. Diversität reduziert leichtsinnige Entscheidungen, die eben diese Krise vor 10 bis 15 Jahren erst provozierten. Aber fast noch wichtiger: Diversität steigert die Innovationskraft und den wirtschaftlichen Erfolg. 

Diversity richtig eingesetzt macht Unternehmen innovativer 

Es gibt eine positive Beziehung zwischen Diversity-Initiativen und der Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Die aktuelle Diversity-Studie der TU München und der Boston Consulting Group, The Mix That Matters – Innovation Through Diversityhebt explizit diesen Zusammenhang hervor. Unternehmen mit höherer Diversity in Führungspositionen und in Teams erzielen mehr Umsatz aus neuen Produkten und Dienstleistungen. 

Aber der Innovations-Boost entsteht nicht einfach durch eine höhere Frauenquote im Unternehmen. Brachliegendes Innovations-Potenzial wird erst dann ausgelöst, wenn mehr als 20 Prozent Frauen Führungspositionen und Bottom-Line-relevante Funktionen besetzen. Es nützt also nichts, wenn die ganze HR-Abteilung aus Frauen besteht und ein Geschäftsleitungsmitglied eine Frau ist – womöglich noch vom HR. Allein mehr Frauen einzustellen, reicht also nicht. 

Erst wenn der richtige Mix besteht, entwickelt sich daraus eine Unternehmenskultur, die das Innovations-Potenzial freisetzen kann. Es wird eine Arbeitsatmosphäre geschaffen, in der sich Mitarbeitende aller Führungsebenen wohl fühlen und ihr volles Potenzial für die Firma einsetzen.

Wie können Unternehmen Frauen rekrutieren und fördern?

Um Frauen für neue digitale und technische Karrieren in ihrem Unternehmen zu gewinnen, ist der Einstellungsprozess mitentscheidend. Die Forschung belegt, dass sich Frauen nur auf Stellenangebote bewerben, wenn sie 90 bis 100 Prozent der Kriterien erfüllen. Lange Aufzählungen von Anforderungen, Aufgaben und Voraussetzungen schrecken ab.

Um die Rekrutierungs-Pipeline mit mehr weiblichen Talenten zu füllen, müssen Stellenanzeigen diesem Umstand Rechnung tragen. Konkret sollten die Texte geschlechtsneutral und emotionaler formuliert sein. Männlich konnotierte Begriffe wie analytisch, herausfordernd, ehrgeizig, kompetitiv, etc. signalisieren, dass dieser Job eher nicht für weibliche Teamplayer gedacht ist. Zeigt der Markenauftritt des möglichen Arbeitgebers kaum Frauen, schreckt dies Kandidatinnen ebenfalls ab.

Werden Diversity-Ziele nicht oder nur verhalten kommuniziert, vergeben Unternehmen weitere Chancen, potenzielle Mitarbeiterinnen anzusprechen. Denn gerade für Frauen ist es wichtig, ein Gefühl für Softfactors der Firma zu erhalten: Wer arbeitet hier? Wie kann ich meine Kompetenzen einbringen und wie werden sie respektiert? Wie sehen die Büros aus? Wie steht es um Familienfreundlichkeit? 

Unbewusste Vorurteile beeinflussen die Rekrutierung

Ist die Rekrutierungs-Pipeline erst einmal mit weiblichen Talenten gefüllt, geht es darum, für faire Chancen zu sorgen. Der weitere Prozess sollte deshalb möglichst frei von Voreingenommenheit laufen. Persönlicher Hintergrund und Erfahrungen von Recruitern, der kulturelle Kontext und gesellschaftliche Stereotypen haben nämlich einen grossen Einfluss auf Verhalten und Entscheidungen. Unbewusste Vorurteile (Unconscious Bias) entstehen fast automatisch und reflexartig in unseren Gehirnen, um eine Situation oder einen Menschen schnell beurteilen zu können.

Den Bias komplett auszuschalten, ist unmöglich. Eine strukturierte Evaluation kann diese negativen Auswirkungen aber deutlich entschärfen. Zum Beispiel, indem demografische Angaben aus den Berwerbungsunterlagen entfernt werden. Oder dadurch, dass bei der Einstellung und Beförderung immer mehrere Kandidaten gleichzeitig bewertet werden. 

Sehen heisst glauben: Diversität sichtbar machen

Eine inklusive Unternehmenskultur ist die Basis, damit Talente sich gerne für die Firma einsetzen, sich entwickeln und bleiben wollen. Wenn Vielfalt so wertgeschätzt wird, dass sich alle einbezogen fühlen, dann zahlt Diversität auch stark auf Innovation ein. Neben der Rekrutierung gehört dieses Augenmerk auch den Lohnverhandlungen und Beförderungen.

Damit Frauen überhaupt motiviert werden und die nötige Selbstsicherheit für mehr Verantwortung erhalten, müssen ihnen Gelegenheiten geboten werden. So wird ihre Verantwortung und ihr Erfolg sichtbar. Denn auch heute ist es meist noch so, dass Männer eher nach ihrem Potenzial befördert werden. Bei Frauen steht dagegen meist nur die aktuelle Leistung im Fokus.

Innovation als Antrieb

Was ist Innovation? Etwas Neuartiges, das eine höhere monetäre Wertschöpfung verspricht, also höhere Umsätze und Kosteneffizienz, eine verbesserte Customer und/oder Employee Experience. Die Basis dafür legen kreative Menschen. Unternehmen tun deshalb gut daran, ein Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass sich Mitarbeitende wertgeschätzt und anerkannt fühlen. Menschen denken dann gerne mit, setzen sich und ihr Know-how ein, entwickeln und leisten mehr. Durch die höhere Vielfalt von Mitarbeitenden, gepaart mit einer offenen Kultur, stimulieren Unternehmen aktiv die Lust auf neue, zündende Ideen.

Nun, niemand behauptet, dies sei immer einfach. Aber es ist lösbar, weil es nicht um entweder-oder, sondern vielmehr um gemeinsam besser geht. Zur Vermeidung einer nächsten Krise scheint Lehman Siblings ein überlegeneres Konzept, als die neben der Wallstreet durchaus auch in vielen Technologie-dominierten Sektoren noch zu oft zelebrierten Monokulturen.

Die Autorin: Valérie Vuillerat

Valérie Vuillerat ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten in der Schweizer Digitalbranche. Sie hat unter anderem die UX-Szene in den letzten zehn Jahren massgeblich mitgestaltet und dabei viel zur Förderung von Diversität in der Technologiebranche beigetragen.

Als Mitgründerin von Witty Works unterstützt sie Unternehmen dabei, weibliche Tech-Talente und -Führungskräfte zu rekrutieren und zu halten. Die Unternehmerin war zudem Initiatorin der Vortragsreihe UX Brunch Zurich oder von We Shape Tech, einem Netzwerk, das sich für Diversität in der Tech-Szene einsetzt. Zudem verantwortet sie als Co-Studienleiterin den Nachdiplomlehrgang Chief Digital Officer HF am SIB Schweizerisches Institut für Betriebsökonomie. 

Websites: HiversityValérie Vuillerat