Dass die Digitalisierung seit Jahren Anlauf holt und heute deutlich spürbarer durchschlägt, ist eher unbestritten, weil sichtbar. Ebenso, dass sich die Digitalisierung noch sehr viel stärker auswirken und sämtliche Bereiche verändern wird, zum Teil umwälzend: Leben, Arbeit, Bildung, Mobilität, Einkaufen und mehr. Dadurch sind alle Stakeholder involviert und gefordert – Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder auch das Bildungswesen.
Unter dem etwas unpräzisen Sammelbegriff "Digitale Transformation" ist in unzähligen Medien laufend nachzulesen, wer sich wie transformiert, wer in welche Richtung aufrüstet und wer mit welchen Konzepten und neuen Strategien die digitale Zukunft gestalten will.
Aktuell gibt's zum Thema allerdings auch Artikel zu lesen, die fast schon nach digitaler Abrüstung klingen:
Schweizer Unternehmen: "Digitalisierung? Interessiert uns nicht"
Diese irritierende Headline im Tages-Anzeiger Mitte November 2017 bezieht sich auf eine Umfrage der UBS. Die Grossbank hat 2'500 Schweizer Unternehmen zur Digitalisierung befragt. Holger Alich, stv. Ressortleiter Wirtschaft, fasst im Tages-Anzeiger die Ergebnisse der Studie mit folgenden Worten zusammen:
"Es gibt nur wenige Themen, die derzeit ähnlich breit in den Medien behandelt werden wie die Digitalisierung. Wer den Begriff in der Schweizer Mediendatenbank eingibt, dem spuckt das System über 15 000 Artikel aus – die allein in den vergangenen zwölf Monaten erschienen sind. Daher sollte man meinen, dass auch Schweizer Unternehmer das Thema auf ihrer Agenda haben. Eine Umfrage der Grossbank UBS kommt aber zu einem ganz anderen Befund. Demnach glauben 59 Prozent von 2500 befragten Unternehmen, dass die Digitalisierung nur «geringfügige Veränderungen» oder «keine Veränderungen» für ihre Firma mit sich bringen wird. Im Klartext: Der grossen Mehrheit der Schweizer Unternehmen ist die Digitalisierung egal."
Widerspruch gibt's von allen Seiten und auch die UBS selbst zeigt sich im Artikel des Tages-Anzeigers erstaunt:
«Das Ergebnis hat uns auch überrascht», räumt Martin Blessing ein, Chef von UBS Schweiz. «Dreht sich um die Digitalisierung nur ein Hype, oder verschlafen Unternehmen diesen Trend? Wir wissen es nicht wirklich, ich vermute, es ist ein bisschen von beiden», sagt der UBS-Manager.
Resultate der Studie als Auszug (Quelle: UBS Outlook Schweiz)
- Für 47 Prozent der befragten Unternehmen wird die Digitalisierung deren Geschäftstätigkeit nur geringfügig verändern, weshalb die Unternehmen auch keinen Bedarf sehen, ihr Geschäftsmodell anzupassen
- 12 Prozent der Firmen gaben an, von der Digitalisierung nicht tangiert zu sein
- Für rund 41 Prozent der Unternehmen dürfte aber die Digitalisierung stärkere oder sehr starke Anpassungen des Geschäftsmodells mit sich bringen
- Während rund 20 Prozent der Unternehmen, die jünger als fünf Jahre sind, keine Veränderung durch Digitalisierung erwarten, liegt der Anteil bei den Unternehmen, die älter als 20 Jahre sind bei lediglich neun Prozent
Glaubt man diesen Zahlen, dann heisst das konkret, dass sich 59 Prozent der Schweizer Unternehmen nicht die Bohne für die Digitalisierung interessieren. Sie bewerten die Digitalisierung als nicht relevant, weil sie ihr Geschäftsmodell nur geringfügig oder gar nicht tangiert sehen.
UBS Outlook Schweiz: Zahlen und Interpretationen aus der Befragung von 2'500 Unternehmen
Schweizer Unternehmen: "Digitalisierung? Interessiert uns brennend"
Das Kontrastprogramm gibt's auch. Praktisch zeitgleich, Ende November 2017, hat die FHNW Hochschule für Wirtschaft in Kooperation mit Postfinance und weiteren Sponsoren die Resultate ihrer Studie zum selben Thema vorgestellt. Befragt wurden 2'590 Personen aus Schweizer Unternehmen. In der Stichprobe also vergleichbar mit den 2'500 Unternehmen aus der UBS-Studie. Die Resultate präsentieren sich jedoch völlig anders, um nicht zu sagen: diametral entgegengesetzt.
Resultate der Studie als Auszug (Quelle: FHNW Hochschule für Wirtschaft)
- Bei > 85 Prozent der KMU hat die Digitale Transformation Auswirkungen auf das Geschäftsmodell sowie die interne Zusammenarbeit und die Prozesse
- Die Digitale Transformation ist relevant in 73 Prozent der KMU (92 Prozent der Grossunternehmen)
- Bei 69 Prozent hat die Digitale Transformation Einfluss auf die Unternehmenskultur
- 63 Prozent der KMU haben bereits neue Technologien eingeführt
- 62 Prozent der KMU haben ihre Marktpositionierung modifiziert
- 50 Prozent der KMU haben ihre Unternehmensstruktur angepasst
- Nur 30 Prozent der KMU sind mit ihren Digitalisierungsbemühungen zufrieden
Glaubt man diesen Zahlen, dann heisst das konkret, dass sich 85 Prozent der Schweizer Unternehmen sehr stark mit der Digitalen Transformation befassen. 73 Prozent der KMU und 93 Prozent der Grossunternehmen bewerten die Digitale Transformation als relevant, weil sie ihr Geschäftsmodell eher massiv tangiert sehen.
FHNW: Zahlen und Interpretationen aus der Befragung von 2'590 Personen
Gedanken zu Studien
Wie kommen die völlig unterschiedlichen Ergebnisse zustande?
Mit dem unterschiedlichen Begriffen "Digitalisierung" bei der UBS-Befragung und "Digitale Transformation" bei der FHNW-Studie lassen sich die eklatanten Differenzen der beiden Erhebungen nicht erklären. Beide Begriffe sind ähnlich konnotiert und werden praktisch synonym gehandelt. Das ist auch in den Antworten abzulesen.
Studiendesign, Fragestellung und Stichprobe können Unterschiede schaffen, in der Regel allerdings eher graduell bei repräsentativen Umfragen und nicht in dieser nahezu gegenteiligen Ausprägung.
Die Erfahrungen unserer Redaktion aus unzähligen Kontakten, Gesprächen und permanenten Tages-Recherchen zu sämtlichen Themen der Digitalisierung und zur Digitalen Transformation bestätigen klar die Richtung und Tendenz der FHNW-Studie. Nur ist die Einschätzung nicht wissenschaftlich abgestützt, sondern basiert eben "nur" auf Praxis und Erfahrung.
Studien als Bestätigung der eigenen Meinung?
Zudem liegt genau in diesem Punkt ein genereller Studien-Stolperstein begraben: Menschen neigen dazu, jenen Resultaten Glauben zu schenken, welche ihre eigene Meinung bestätigen.
Bestes Beispiel dafür sind die zahlreichen Studien zur Entwicklung von Mobile Payments. Zeigt eine Studie heute die nach wie vor sehr zurückhaltende Bereitschaft der Bevölkerung zum mobilen Bezahlen, "beweist" die neue Studie am nächsten Tag, dass der Durchbruch unmittelbar bevorsteht. Je nach Temperament einer Redaktion, gehen dann die trüben oder die frohen Aussichten hinaus in die Öffentlichkeit – im Idealfall allerdings beide Versionen in kommentierter Form.
Studien sind nicht unfehlbar
Studien können wertvolle Informations-Instrumente zum Stand von Entwicklungen oder zum Meinungsklima bestimmter Themen sein und damit Beiträge zur eigenen Meinungsbildung leisten. Unfehlbar sind sie nicht, und wenn man das Studiendesign nicht im Detail kennt, lässt sich auch nicht bedingungsunslos auf den Grad der Treffsicherheit schliessen.
Deshalb betrachten wir von der Redaktion Studien weiterhin "nur" als Informations-Ergänzung. Werden durch Studienergebnisse eigene Recherchen und Beobachtungen eher bestätigt, verschafft das zusätzliche Sicherheit. Wird genau das jedoch widerlegt, gehören Fragen, Überprüfung sowie der zweite und der dritte Blick zwingend mit dazu. Weil dieser Modus in Redaktionen ohnehin immer aktiv sein sollte, lassen sich die meisten Studien und deren Resultate eher gut einordnen, wenn man mit Interesse, Skepsis, gesundem Menschenverstand und Pragmatismus unterwegs ist.
Die aktuellen Studien von UBS und FHNW: Eklatante Unterschiede bleiben
Bei den beiden Studien der UBS und der FHNW lassen sich die eklatanten Unterschiede im Ergebnis jedoch nicht ohne Weiteres erklären. Zumal im einen wie im anderen Fall Studiendesign, Art der Fragestellung oder auch die Zusammensetzung der Stichprobe die Resultate zum selben Thema offensichtlich in eine völlig andere Richtung gehen lassen. Das irritiert und lässt Fragezeichen offen.
Sind die Schweizer Unternehmen nun zum überwiegenden Teil involviert, stark engagiert, gut unterwegs und nur 13 Prozent zeigen der Digitalisierung die kalte Schulter (Studie FHNW)? Oder ganz anders und bleiben volle 59 Prozent der Unternehmen passiv, weil sie ihre Geschäftsmodelle durch die Digitalisierung nicht tangiert sehen (Studie UBS)?
Fragen, welche nur die Herausgeber der Studien mit der nächsten Befragungswelle und Auflage klären können.
Zum Thema der unpräzisen Begriffe
Die Digitale Transformation ist nicht nur digital (erstes Missverständnis) und sie ist kein Projekt mit einem Anfang und einem Ende (zweites Missverständnis), sie ist ein kontinuierlicher Prozess und eine ständige (exponentielle) Entwicklung, die noch ein paar weitere Missverständnisse bereithält.
Unternehmer und Blogger Alain Veuve hat bereits 2016 vorgeschlagen, den Begriff "Digitale Transformation" durch "Perpetual Disruption" zu ergänzen. Er begründet das so:
«Die Digitale Transformation ist sozusagen die Aufwärmphase für den Marathon der Perpetual Disruption. Stellen Sie sich das so vor: Wenn die Digitale Transformation die Adventszeit ist, ist die Perpetual Disruption Weihnachten. Mit dem Unterschied, dass dieses Weihnachten für die nächsten 150+ Jahre täglich in exponentiell ansteigender Anzahl gefeiert wird.»
Damit ist der missverständliche und unpräzise Begriff "Digitale Transformation" noch nicht wirklich geschärft, gewinnt aber immerhin deutlichere Konturen in einem erweiterten Kontext.
Details zu Alain Veuves These: "Das Konzept der Perpetual Disruption"
Die Studien von UBS und FHNW im Detail
Beide Studien bieten zentrale Resultate im Überblick mit Interpretation der Ergebnisse, wie auch die ausführliche Form als PDF zum Runterladen:
UBS Outlook Schweiz: Zahlen und Interpretationen aus der Befragung von 2'500 Unternehmen
FHNW: Zahlen und Interpretationen aus der Befragung von 2'590 Personen
Stichworte zum Thema im Lexikon: Digitalisierung | Digitale Transformation