Swiss Digital Finance Conference: Bericht zur Konferenz aus der Sicht von Patrick Comboeuf (Mensch)

Prof. Dr. Georges Grivas, Chairman Swiss Digital Finance Conference
Prof. Dr. Georges Grivas, Chairman Swiss Digital Finance Conference (Bild: Philipp Klemm)

Thesen, Insights und lustige Anekdoten zu Künstlicher Intelligenz (KI/AI) in der Finanzindustrie – die (doppelte) Nachlese zur Swiss Digital Finance Conference.

Die HSLU-Crew rund um den umtriebigen Gastgeber Prof. Dr. Georges Grivas und Moderator Oscar Neira lockte einmal mehr progressive Vor-, Mit- und Nachdenker des helvetischen Finanz-Ökosystems in den zentralschweizerischen Tech-Schmelztiegel nach Rotkreuz.

Das ambitionierte Motto des facettenreich kuratierten Programms:

"AI & Finance – Hype oder Game Changer?"

Wurden die Organisatoren und Gäste auf der Bühne dem hehren Anspruch, diese Frage umfassend zu beantworten, gerecht?

Für den eiligen Leser (TL;DR, kännsch?) hier die Antwort in Kurzform: Ja und Nein.

Aus gegebenem Anlass, aber auch für diejenigen, die bloss wissen wollen, wie ein von Bard, der generativen AI von Google, in wenigen Sekunden hingeschlorzter (und bei ‘…’ jeweils nur leicht gekürzter) Essay aussieht – klicken Sie bitte hier.

Sind Sie noch da?

Für Sie und für alle anderen gibt’s hier – nach Bard – ein paar von Menschenhand geschriebene Reflexionen zu steilen Thesen, inspirierenden Fakten und Zukunftseinschätzungen sowie als Abschluss ein Plädoyer für mehr Mut im Umgang mit KI.

Prof. Dr. Georges Grivas lieferte mit den fünf Schlüsseltrends 2023 im Digital Finance-Spektrum eine gute Vorlage für die nachfolgenden Speaker und Panelisten:

  • KI und Datenanalyse: Generative Künstliche Intelligenz (KI/AI) und Prompt Engineering erschliessen zusätzlich geschätzte Produktivitätspotenziale von bis zu 300 Milliarden Franken und hieven Natural Language Processing-Lösungen auf eine gänzlich neue Ebene.
  • Cybersicherheit: Der exponentiell wachsenden Anfälligkeit für Cyberangriffe wird vermehrt mit KI-gestützter Erkennung von Bedrohungen und einem auto-aktivierten Abwehrdispositiv begegnet. Zero Trust-Architekturen, zum Beispiel mit Blockchain im Tech-Layer und quanten-sichere kryptografische Lösungen machen Hacker-Attacken um ein Vielfaches aufwändiger.
  • Digitale Assets, Krypto-Finance und das Metaverse: User Experience over Features führen Web 3.0 allmählich Richtung der breiten Masse. Voraussetzung dafür ist Transparenz in Bezug auf Regulierung. Die wachsende Nutzung dezentraler Tech-Stacks bei grossen Finanzinstituten wie Blackrock, Fidelity, Vanguard und anderen führt auch zu "reiferen" Monetarisierungs- und innovativen Geschäftsmodellen. Die Hype-Cycle von Blockchain, Crypto und Metaverse nähern sich dem Plateau der Produktivität. Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt – und dem Krypto-Winter zum Trotz – entstehen kundenrelevante Anwendungen, während die Technologien selbst symbiotisch im Infrastruktur-Layer aufgehen.
  • Open Finance: Die weltweite Tendenz zu regulierten Ansätzen lässt Märkte wie USA, die Schweiz oder Singapur bisher unbeeindruckt. Wohl erst mit der für 2024 angekündigten Botschaft des Bundesrates wird die bisher vor allem iterativ über Open Banking getriebene Innovationswelle das Geschäftsmodell der etablierten Institute nachhaltig tangieren.
  • Digitale Ökosysteme und Embedded Finance: Embedded Finance ermöglicht es Unternehmen, Finanzdienstleistungen in ihre eigenen Produkte und Services zu integrieren. Dieser Markt könnte sich in den kommende 3 bis 5 Jahren verdoppeln. Insbesondere traditionelle Banken könnten die Kundenschnittstelle an grosse internationale digitale Ökosysteme verlieren (Neo-Banken, Marktplätze, Big Tech/RedTech aber auch BNPL-Anbieter), wenn diesen die friktionsfreie Voll-Integration in eine stimmige Customer Journey gelingt. Banken und Versicherungen müssen sich aktiv mit einem neuen Rollenverständnis auseinandersetzen, indem sie neu zum Beispiel als Technologieanbieter, Plattformeigentümer, Lizenz-Verleiher, Plattform-Orchestrator oder gar nur noch als Anbieter, Zulieferer beziehungsweise Konsument im Ecosystem partizipieren.

Bereits nach dem ersten Block der Konferenz wurde offensichtlich: der helvetischen Finanzindustrie gehen die Herausforderungen auch nach der aufgegleisten Rettung der Credit Suisse so schnell wohl nicht aus.

There’s an AI for that

Eine Reihe von erfolgversprechenden Ansätzen lieferte die illustre und erfreulich diverse Referentenschar im Plenarsaal der HSLU Hochschule Luzern in Rotkreuz.

Dr. Michel Neuhaus von der UBS orakelte, wie viel Zukunft noch vor den Banken, aber auch für uns als Menschen läge, angesichts der exponentiell anmutenden Entwicklung Künstlicher Intelligenz. Seine brilliante Keynote bot einen guten Mix von theoretischen Grundlagen gespickt mit vielen prägnanten Anwendungsbeispielen. Er pfügte damit das Terrain vor für die ihm folgenden Protagonisten auf der Bühne, indem er auch dem nur peripher mit AI vertrauten Zuschauer einen niederschwelligen Zugang bot.

Dem im Handel bereits etablierten "Invisible Voice"-Thema baute David Kauer von der Postfinance einen Brückenkopf zwischen analoger Vergangenheit beziehungsweise dem Zahlungsverkehr im Internet of Things. Er brach insbesondere auch eine Lanze für eine funktionsfähige Digital ID, um schlummernde Potenziale endlich skaliert zu erschliessen.

Die beiden Strategy&/PwC-Vertreter Andreas Pratz und Daniel Ettlin verwoben die bisher enttäuschende Annahme von Open Banking bei Retailkunden in Europa mit dem Fehlen einer dominanten Super-App in der alten Welt. Aber gerade die allmählich um sich greifende App Fatigue – schweizerische Smartphone-Nutzer haben durchschnittlich über 80 (!)  Apps installiert – unterstreicht die offensichtlichen Chancen für mutige Super-App Platform-as-a-Service Bestrebungen. Generative AI befeuert radikalen Wandel in der Finanzindustrie. Nach der Tech-Branche, wo viele Programmierer und Applikationsentwickler von Prompt Engineers abgelöst zu werden drohen, verkörpert die Finanzbranche den am zweitmeisten von diesen Verwerfungen betroffenen Wirtschaftszweig.

Artificial Intelligence takes your Job

… to the next level. Fast jeder Wissensarbeiter wird plötzlich programmieren oder eben "prompt-engineeren" können. Das wachsende Finanzwissen macht neue, bisher unterversorgte Kundengruppen für viel mehr Finanzdienstleister attraktiv. Insbesondere hyper-personalisierte Dienstleistungen können dank KI entlang der gesamten Wertschöpfungskette schnell und kostengünstig skaliert werden.

Gerade diese "unserved" sowie "unbanked" Menschen rückte die Juristin Dr. Katharina Lasota Heller von  Lexcellence in den Mittelpunkt ihrer rechtlichen Würdigung. Financial Inclusion ist nicht nur in der dritten Welt ein Wachstumstreiber. Doch nur wenn es gelingt, den westlichen KI-Tools oft inhärente Voreingenommenheit so Herr zu werden, dass darauf basierende Plattformen Bankgeschäfte nicht von vornherein verhindern.

Eine weitere, von Moderator Oscar Neira, als Powerfrau angekündigte Speakerin war Sanela Lüscher von Honesto, einer nutzerfreundlichen Krypto-App made in Switzerland. Ihre von Elon Musk inspirierte Frage, “Nur was, wenn KI von KI programmiert wird?”, verband sie unter anderem mit hegelscher Dialektik und einer von Coop-Werbung untermalten Filmempfehlung als Teil ihrer Geschichte als Unternehmerin und Mutter.

“Simplicity scales. Complexity does not.”

Philipp Zimmermann von der Lenzburger Software-Schmiede Finnova stieg ebenfalls mit einer sehr persönlich gefärbten Kindheitsgeschichte in seinen Block zu Conversational Banking ein. Seine zentralen Botschaften, wie Ordnung gibt ein gutes Gefühl, Einfachheit als solide Basis für durchdachte Nutzererlebnisse und Messen, Messen, Messen, sowie die ins Feld geführten Beispiele unterstreichen: bei der automatisierten Interaktion mit Bankkunden haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch mehr Berührungsängste als die Kundinnen und Kunden.

Das von Dr. Sina Wulfmeyer, Chief Data Officer bei Unique.ch, eloquent moderierte Panel mit Eliane Albisser (Contovista), Gregor Kalberer (Head of AI, Swisscom), Tobias Kaymak (Google) und den beiden Speakern Neuhaus und Pratz lieferte eine pointierte Debatte über das übergeordnete Tagungsthema.

“KI schafft auf den ersten Blick wieder ein Level Playing Field”

Technologie ist immer schneller als die Menschen und deren Prozesse. Der in der etablierten Wirtschaft nicht unübliche Anspruch auf Perfektion hilft da leider nicht. So scheitert zum Beispiel das auf der Kundenseite durchaus gewünschte KYC-Datasharing heute meist an der Wirtschaftlichkeit, weil die Reifegrade aktueller Datenstrukturen oft noch nicht mit den technologischen Möglichkeiten mithalten.

Eliane Albisser führte an, dass auch bei AI eine gewisse Fehler-Anfälligkeit nie ganz ausgemerzt werden kann. Dies müssen vor allem Kundinnen und Kunden wissen, welche sich dessen nur ungenügend nicht bewusst sind. In dieselbe Informations-Kerbe schlug Tobias Kaymak von Google, indem er auf den grundlegenden Unterschied zwischen ChatGPT, Bard und unternehmensinternen genAI-Systemen hinwies. In ersteren verwendet man KEINE Kundendaten zum Training, NIE. Nur muss eben auch das früh, verständlich und vor allem laut k-o-m-m-u-n-i-z-i-e-r-t werden.

Gregor Kalberer warf ein Schlaglicht auf potenzielle Risiken für die Souveränität vieler Länder. Die öffentliche Darstellung von Herkunft, nationaler Identität und Geschichte sind gefährdet, wenn Staaten nicht selber in Large Language Models (LLMs) investieren, sondern dieses Feld allein den privatwirtschaftlichen Initiativen aus den USA, beziehungsweise den staatlich-gelenkten Projekten aus China überlassen. Für die Schweiz könnten perspektivisch neben SwissGPT von AlpineAI mitunter auch Swisscoms BlueGPT-Idee Beiträge zu einem Foundational Modeling leisten.

Wasser auf die Mühlen vieler Hype-Propheten leitete Andreas Pratz mit einem Zahlenexkurs. “Wie viel Umsatz müssen die Investitionen in ‘Schaufelverkäufer’, also zum Beispiel GPUs von NVDIA, bei den Käufern am Ende auswerfen, damit daraus ein angemessener RoI generiert wird?” Eine 200-Milliarden-Dollar-Frage, deren Antwort wir nicht einmal annähernd abschätzen können, meint der einflussreiche VC-Investor Andreessen Horowitz.

Einen letzten Lacher provozierte Tobias Kaymak, indem er die Ordnungs- und Zusammenfassungsfähigkeiten von genAI mit einer Beichte aus seiner Schulzeit verband. “Mit dem Prompt: 'Mach mir eine Zusammenfassung aus diesem Wust an Dokumenten in 100 Wörtern' geht heute ein unheimlicher Zeitgewinn einher. Und ja, auch ich habe in der Schule immer nur die Zusammenfassung gelesen und nicht das ganze Buch.”

Einigkeit herrschte darüber, dass "Human in the loop" (der Mensch leitet die KI beim Lernen an) das dominierende Prinzip bleiben muss und wird.

Gerade Letzteres sollte Mut machen in der Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz.

Lasst uns den Verheissungen von AI mit einer optimistischen Grundhaltung begegnen ohne die legitimen, teilweise aber auch diffusen Ängste der Gesellschaft zu ignorieren.

Künstliche Intelligenz wird weder die Menschheit noch das Finanzwesen auslöschen, dafür aber menschliche Mittelmässigkeit. Sie wird "Bullshit"-Jobs automatisieren und so zur austauschbaren Gattungsware machen. Bei Lichte betrachtet birgt genau dies viel mehr Chancenpotenziale als Gründe zum Wehklagen. Oder was meint ihr da drüben bei ChatGPT, Bard & Co?

Der Autor: Patrick Comboeuf

Patrick Comboeuf ist einer der profiliertesten digitalen Vordenker der Schweiz. Neben dem Fachgebiet Künstliche Intelligenz im Finanzwesen berichtet er für MoneyToday.ch über Themen wie Digital Finance, Blockchain, DeFi, Web3 sowie ESG & Sustainable Investing.

Mehrere Wochen im Jahr verbringt er im Silicon Valley und anderen Hotspots der digitalen Welt. Seit 2013 arbeitet er freiberuflich für verschiedene renommierte Bildungsinstitutionen, unter anderem als Studiengangsleiter für Post-graduate Masterprogramme wie den CAS AI in Finance & DeFi/Web3 Economist an der HWZ Hochschule für Wirtschaft in Zürich.

Hauptberuflich unterstützt er etablierte Unternehmen sowie aufstrebende Startups als Interims-Manager & Facilitator dabei, ihre Geschäftstätigkeit friktionsfrei in einer "AI First"-Welt zu verankern.

Als früherer Head of Digital Experience bei Swiss Life und als Leiter Digital Business bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) war er federführend verantwortlich für eine Vielzahl von Initiativen, welche die digitale Kundenerfahrung in eine neue Sphäre hoben.

Neben seiner Redaktorentätigkeit für MoneyToday.ch teilt er sein Wissen und seine Einschätzung auch sozial-medial auf LinkedIn und X/Twitter sowie als Prakademiker, Speaker, Moderator oder Podiumsgast auf Konferenzen im In- und Ausland.