Hängt Europa sich im Technologie-Bereich selbst ab?

Alter Wegweiser mit der Aufschrift "Europe"

In Sachen digitaler Innovation, Technologie und KI mischt Europa inzwischen nur noch an der Seitenlinie mit. Ein Kompass der Europäischen Kommission will das ändern.

Die grossen technologischen Würfe der letzten Jahre kommen meistens aus den USA oder aus Asien. Oftmals aus China. Selten bis gar nicht aus Europa. Insgesamt ist Europa generell hinter den USA und China zurückgefallen. Wie kommt das?

Europa setzt sich aus zahlreichen Industrienationen zusammen, die auf eine erfolgreiche Vergangenheit zurückblicken. Mitunter hat man den Eindruck, dass der fortgesetzte Erfolg darin besteht, Errungenschaften und Innovationen der Vergangenheit nur noch zu verwalten. Woran liegt das?

Zahlreiche erstklassige Bildungsstätten und Universitäten sind in Europa beheimatet. Im Technologie-Bereich ist eine grosse Zahl von Unternehmen – oftmals auch Startups – am Ball, um die Welt mitzugestalten. Viele brillante Köpfe sind in Forschung, Denkfabriken und Think Tanks engagiert unterwegs, um in Europa das intellektuelle und technologische Level hochzuhalten. Potenzial ist zweifellos vorhanden, woran liegt's also, dass Europa technologisch eher dämmert als donnert?

Hat Europa sich ins Abseits reguliert?

Die EU ist eine perfekt geölte Gesetzesmaschinerie, die jedes Jahr um die 2'000 neue Gesetze in Kraft setzt. Diese Gesetze müssen alle eingehalten werden, das betrifft Entwicklung, Wirtschaft und Unternehmen in hohem Masse.

Dazu kommen Verordnungen, neue Gesetze und Regulierungen – in kleinerer oder grösserer Flut – auf Ebene der einzelnen Länder. Bezieht man die vielerorts überbordende Bürokratie mit ein, sind einige zentrale Elemente mit höchst aktiver Bremswirkung identifiziert. 

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Europa und den USA

Der Schweizer Urs Hölzle stiess als achter Mitarbeiter zu Google, er war bis 2023 massgeblich für den Aufbau der technologische Infrastruktur des Tech-Giganten verantwortlich. Hölzle hat in einem Interview in der NZZ kürzlich erklärt, was aus seiner Sicht der Schweiz und Europa zum grossen Erfolg fehlt. Er sagt unter anderem:

«Was mir aus amerikanischer Sicht auffällt ist, dass man in Europa 99 Prozent der Zeit damit verbringt, sich über Gefahren und Regulierungen neuer Technologien zu unterhalten und nur 1 Prozent über die Chancen. Es ist wichtig, dass man die Gefahren nicht ignoriert, aber ein Verhältnis 99 zu 1 ist sicher die falsche Proportion.»

Europa reguliert und bremst dadurch ungewollt Unternehmen und Innovation, während der Rest der Welt an Europa vorzieht – kann das sein?

Viele haben den Eindruck, Nichtstun sei risikofrei – das stimmt nicht, Stillstand ist sehr gefährlich

Hölzle bringt Beispiele, weshalb eine gewisse Naivität das Silicon Valley und die USA voranbringt und erklärt aus seiner Sicht, warum die europäische Regulierungswut zu Lähmung und Stillstand in der Wirtschaft führen kann. Dabei verweist er als Beispiel auf die europäische Autoindustrie, mittlerweile liegen Firmen wie Tesla oder chinesische Anbieter weit vorne. 

Europa spielt in verschiedenen Technologie-Bereichen seit längerem an der Seitenlinie und hat Mühe, den Weg zurück aufs Spielfeld zu finden. Die Europäische Kommission hat eine Bestandesaufnahme gemacht, kommt zu genau diesem Schluss und will das ändern.

Die EU reagiert – aber agiert sie auch?

Die Europäische Kommission hat Ende Januar 2025 einen bemerkenswerten Bericht veröffentlicht mit dem Titel: "A Competitiveness Compass for the EU". 

Der Bericht der Europäischen Kommission hält fest, dass Europa bei den Spitzentechnologien hinter den USA zurückgefallen ist, während China in vielen Sektoren aufgeholt hat und das Rennen um die Führung in bestimmten neuen Wachstumsbereichen gewinnt.

Mit ihrem Papier will die Europäische Kommission einen Kompass für die Arbeit der kommenden fünf Jahre anbieten und sie nennt vorrangige Massnahmen zur Wiederbelebung der wirtschaftlichen Dynamik in Europa. "Es ist an der Zeit, aktiv zu werden", sagt die Kommission und will mit ihrem Kompass Europa auf einen anderen Kurs bringen.

Im Kern beschreibt der Bericht die folgenden Probleme (Zitate aus dem Bericht):

  • Europa hat viele wirtschaftliche Stärken, muss aber jetzt handeln, um seine Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen und seinen Wohlstand zu sichern.
  • Die EU muss dringend die seit langem bestehenden Hindernisse und strukturellen Schwächen beseitigen, die sie zurückhalten. Seit mehr als zwei Jahrzehnten hat Europa aufgrund einer anhaltenden Lücke im Produktivitätswachstum nicht mit den anderen grossen Volkswirtschaften Schritt gehalten.
  • Um die Zukunft der EU als wirtschaftliches Kraftzentrum, als Investitionsstandort und als Produktionszentrum zu sichern, ist eine entschlossene europäische Antwort dringend erforderlich.
  • Was für Europa auf dem Spiel steht, ist nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern die Zukunft seines Modells.

Starke Worte, an der Einsicht fehlt es offensichtlich nicht. Der Bericht beantwortet die formulierten Probleme mit einer Zusammenfassung vorrangiger Massnahmen, die zur Wiederbelebung der wirtschaftlichen Dynamik notwendig sind. Dabei spielen Stichworte wie Innovation, Technologie, Transformation, Ressourcen, Risikokapital, Beseitigung von Wettbewerbshemmnissen wiederholt eine grosse Rolle.

Im Kern sind interessante Ansätze und Notwendigkeiten im Papier zu finden. Allerdings auch die Ankündigung, zentrale Bereiche mit neuen Gesetzen und Regulierungen steuern zu wollen. In diesen Bereichen hat die EU, gerade in technologischen Bereichen, bisher nicht unbedingt überzeugt – zahlreiche gut gemeinte und sehr umfangreiche Regulierungen haben sich als einschränkende und bremsende Innovationskiller entpuppt. Also als das ziemliche Gegenteil davon, was der Europäischen Kommission vorschwebt.

Was ist notwendig, um Europa aus dem Dornröschenschlaf zu holen?

Die gute Absicht der Europäischen Kommission und der Wille zum Erfolg sind erkennbar. Inwieweit dem vorgestellten Kompass konkrete Taten und griffige Massnahmen folgen werden, bleibt abzuwarten.

Neben der EU braucht es jedoch auch Handlungen und Massnahmen der einzelnen Staaten. Dazu gehören vernünftige und pragmatische Regulierung sowie – pro Land allerdings in unterschiedlicher Ausprägung – zum Teil massiver Abbau der bestehenden Bürokratie und der laufend neu aufgestellten Hürden. 

Sollen in Europa im Vergleich zu den USA und China für Entwicklung und Innovation gleich lange Spiesse geschaffen werden, sind für Unternehmen zahlreiche bestehende Hürden abzubauen. Nur dann können Märkte und Wettbewerb spielen und Innovation wird wirklich möglich.

Es ist allerdings nicht die EU allein, die Europa wieder zum international ernstzunehmenden und prosperierenden Technologie-Standort machen kann. Es gehört zu den Aufgaben sämtlicher Staaten, in ihren Ländern ein innovations- und wirtschaftsfreundliches Umfeld zu schaffen, das digitale und technologische Erfolge fördert und nicht abwürgt.

Die Regierungen zahlreicher Staaten haben in den letzten Jahren nicht wirklich regiert und aktiv gehandelt. Sie haben Probleme vor sich hergeschoben und verwaltet, aber nicht gelöst. Deshalb besteht nicht nur ein Reform-Stau, es besteht auch ein spürbarer Regierungs- und Handlungs-Stau. 

Europa ist gefordert, um mit Offenheit und Entschlossenheit den Sprung von der Passivität in die Aktionszone zu schaffen. Die Phase der Ankündigungen und Absichtserklärungen ist vorbei. Die Zeit drängt, Europa braucht jetzt eher schnell starke Massnahmen, welche Raum für Innovation schaffen und Europa für bestehende und für neue Unternehmen zu einem attraktiven Standort machen.