Kommentar

Singt ein Vogel auf dem Dach, ist der Klinik-Neubau Geschichte

Ein Vogel singt auf einem Dach

Dass die biologische Vielfalt der Schweiz geschützt werden soll, steht ausser Frage, nur: die Biodiversitätsinitiative torpediert sich möglicherweise selbst.

Am 22. September stimmt die Schweizer Bevölkerung über die Biodiversitätsinitiative ab. Die biologische Vielfalt der Schweiz gehört geschützt, das steht ausser Frage. Wie weit dieser Schutz gefasst werden soll, darüber streiten sich aktuell die verschiedenen Lager.

Die einen möchten bis zu 30 Prozent der Landesfläche für die Biodiversität reservieren. Andere sind der Meinung, dass dadurch die Möglichkeiten zur Produktion von Lebensmitteln zu drastisch eingeschränkt würden. Zudem wäre der geschützte Landanteil auch für Neubauten für alle Zeiten blockiert.

Die Initiative hat einen Haken: Wo Biodiversität draufsteht, ist nicht nur Biodiversität drin. 

Die Initiative geht weit über Biodiversität hinaus

Die Biodiversitätsinitiative will nicht nur geschützten Raum für Biodiversität schaffen, sie will auch Ortsbilder, geschichtlichen Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler bewahren. Mit diesem zusätzlichen Anliegen torpediert sich die Initiatve möglicherweise selbst. Warum, hat Carmen Schirm-Gasser in einem bemerkenswerten Kommentar in der Handelszeitung ausgeführt. 

Die Autorin sieht Risiken, dass sich die Wohnungsknappheit durch die Initiative verschärft. Der Schutz von Ortsbildern und Denkmälern würde zementiert und verschärft. Bereits heute werden aufgrund rigider Ortsbildschutz-Auslegungen Bauvorhaben, Erweiterungen, Verdichtungen oder auch schlicht der Bau einer Solaranlage auf dem Dach verzögert, behindert oder abgewürgt.

Schirm-Gasser zitiert den Zürcher Hochbauvorsteher André Odermatt (SP) mit seiner Warnung, dass mit einer Annahme der Initiative in den nächsten Jahren der Stadt Zürich ein Baustillstand drohen würde. Zudem, so die Autorin, wären private Hauseigentümer massiv tangiert und noch deutlich stärker eingeschränkt, als sie es heute schon sind. Nicht nur in der Stadt Zürich, ganze Ortsteile in der Schweiz könnten betroffen sein.

Weitere mögliche und ebenfalls gravierende Auswirkungen beleuchtet die Autorin in ihrem Artikel in der Handelszeitung: "Nebenwirkungen, die nicht auf dem Beipackzettel stehen".

Will die Initiative zu viel?

Möglicherweise schon. Biodiversität lässt sich eher einfach erklären – wie biologische Vielfalt geschützt werden kann, ebenso. Über diese erklärte und einleuchtende Notwendigkeit lassen sich auch Mehrheiten finden.

Packt man den Ortsbildschutz und Schutz von Gebäuden in ein und dasselbe Paket, wird's allerdings deutlich schwieriger. Zusätzlich verschärfte Vorschriften bei der Erweitererung bestehender Bauten und Stillstand bei Neubauten will niemand. Wohnraum ist heute schon knapp. Zudem möchten Besitzerinnen und Besitzer bestehender Liegenschaft sich nicht durch neue Einschränkungen und Vorschriften gängeln lassen.

Schade um eine diskutierenswerte Initiative, die in der überladenen Form eines Mehrthemen-Pakets deutlich schlechtere Chancen hat. 

Singt ein Vogel auf dem Dach, ist der Klinik-Neubau Geschichte

Spielen Vernunft und Augenmass keine Rolle mehr, lassen sich zuweilen auch die Interessen von Millionen von Menschen nicht mehr mit Biodiversität und dem Schutz eines einzigen Vogels unter einen Hut bringen. Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland zeigt, was geschehen kann, wenn verschiedene Interessen, Vorschriften und Ämter aufeinanderprallen. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat im April 2024 bei Markus Lanz seine Geschichte erzählt.

"Wir sind Standort eines Universitätsklinikums", berichtete Palmer im TV. „Auf die Versorgung sind drei Millionen Menschen angewiesen. Da geht’s um Menschenleben." Der Klinik-Komplex braucht dringend eine Erweiterung. Die Finanzierungs gesichert, Palmer möchte die Baugenehmigung unterschreiben, das darf er jetzt aber nicht.

Ein Patient in der Klinik, ein Ornithologe, hat einen seltenen Vogel zwitschern gehört hat. Den Ziegenmelker. Der ist streng geschützt. Deshalb wurde die Klinikumgebung zum Ziegenmelkerhabitat erklärt – und da wird nicht gebaut. 

Ein einziger Vogel gegen die Interessen von 3 Millionen Menschen. Der Vogel hat gewonnen. Allerdings ist der geschützte Vogel seit einem Jahr nicht mehr gesichtet worden, das ändert jedoch nichts am Bauverbot, weil: der Ziegenmelker könnte irgendwann zurückkommen.

Was sich anhört wie ein Schwank von der Bühne, ist eine reale Bürokraten-Posse in mehreren Akten, im Detail hier nachzulesen.

Soweit wird es in der Schweiz hoffentlich nicht kommen, aber die Geschichte lehrt auch uns: Vorsicht beim Schmieden von Gesetzen, die Behörden, Ämtern sowie beseelten und eifrigen Protagonisten von Ortsbildschutz- und Naturschutzorganisationen zu viel Spielraum geben. Und bei Änderungen der Verfassung sollten wir niemals ausser Acht lassen, dass Gesetze Menschen dienen und sie nicht peinigen und ausschliessen sollen.

Oberbürgermeister Boris Palmer und der Ziegenmelker

Sehenswertes Video, das den Irrsinn überzogener Schutzanliegen und gut gemeinter Gesetze plakatiert, die sich im Ergebnis gegen Menschen richten.

Das Video zum Thema Wohnungsnot und Mietpreise in voller Länge gleich unten.