Vom Ereignis zum Desaster

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Krisenmanagement funktioniert im Kern einfach – weshalb stolpern Topmanager immer wieder in ihre eigenen Fallen?


Es begann mit einem überbuchten Flug und einer "Umplatzierung"

Der Ursprung der Entwicklung vom 11. April 2017 ist bekannt: Der Flug der United Airlines von Chigaco nach Louisville ist überbucht. Die Suche nach freiwilligen Passagieren, die sich auf einen nächsten Flug umbuchen lassen, gipfelt darin, dass David Dao, ein 69-jähriger Arzt, brutal und mit Gewalt von mehreren Sicherheitsleuten aus dem Flugzeug geschleift wird. Diese "Umplatzierung" endet für den Passagier (nach eigenen Angaben) mit einer Gehirnerschütterung, einer gebrochenen Nase und zwei verlorenen Schneidezähnen. Die Szenen des Rauswurfs, des schreienden Passagiers, seiner Verletzungen, seines Schocks und die entsetzten Reaktionen der anderen Passagiere gehen als Videoclips um die Welt.

Krisenmanagement im Frühstadium

Krisenmanagement bei cleveren Kindern ab etwa sieben Jahren funktioniert so:

Phase 1: Es ist Mist passiert.

Phase 2: Das Kind stellt sich hin und sagt: Es ist Mist passiert, das tut mir sehr leid, ich werde es nie wieder tun und ich bringe die Sache jetzt in Ordnung. – Ob die gewählte Strategie mit guter Erziehung, mit Instinkt, mit Angst vor Taschengeld-Entzug und Spielplatz-Sperre oder schlicht mit Schadensbegrenzung gelernt aus Erfahrung zusammenhängt, lassen wir dahingestellt.

Phase 3: Die Aufräumarbeiten beginnen, der gute Wille wird anerkannt, das Umfeld ist milde gestimmt, die Sanktionen halten sich in Grenzen, das Gras beginnt bereits zu wachsen, das sich sehr schnell über die Sache legen wird.

Krisenmanagement auf höchster Ebene

Krisenmanagement bei top ausgebildeten und hochbezahlten Managern funktioniert (oftmals) so:

Phase 1: Es ist Mist passiert.

Phase 2: Erstmal lieber nichts sagen, vielleicht merkt's keiner und die Wolken verziehen sich von selbst.

Phase 3: Öffentlichkeit und Medien reagieren.

Phase 4: Ein bisschen was sagen, nicht alles, nur das Nötigste, eine gemurmelte Entschuldigung vielleicht, ohne Schuldeingeständnis – und die Empörung wird sich legen.

Phase 5: Der Shitstorm in den Social Medias geht los, Medien weltweit berichten noch offensiver, die Öffentlichkeit läuft Sturm.

Phase 6: Ein öffentliches Statement, eine zu feierliche Entschuldigung unter Druck (glaubt keiner, weil sie nicht freiwillig und viel zu spät kommt), das Versprechen, man werde alles im Detail untersuchen (haben Medien inzwischen bereits gemacht, fehlende Informationen werden durch Vermutungen und Spekulationen ersetzt), immer noch kein ernst gemeintes Schuldeingeständnis (die Öffentlichkeit hat die Urteile bereits gefällt, die ab jetzt schwer zu korrigieren sind), man werde später im Detail berichten (das interessiert in dieser Phase keinen mehr, weil die Informationen in Scheibchen und Portionen als das empfunden werden, was sie sind: Taktik und die Hoffnung, dass nicht ganz alles rauskommt).

So geschehen im Falle der United Airlines, deren CEO Oscar Munoz in der Kommunikation so ziemlich jede Regel missachtet hat, die als Teil der Strategien fürs Krisenmanagement bei jedem Grosskonzern in der Schublade liegen. Mit seinem ersten, dürren und nichtssagenden Vier-Satz-Statement, das in keinem Verhältnis zur Dramatik der Bilder und Videoclips steht, hat Munoz keinen Schaden begrenzt, sondern Öl ins Feuer geschüttet. Mit seiner faktischen Nicht-Reaktion hat er einen Bumerang geworfen, der sich weltweit auf den Weg gemacht hat, um unkontrollierbar in millionenfach verstärkten Empörungswellen im CEO Office wieder einzuschlagen.

Das Resultat

Das nicht vorhandene oder nicht sichtbare aktive Krisenmanagement hat nicht nur eine, sondern gleich mehrere fatale Auswirkungen provoziert:

Börsenwert: Der Börsenwert von United Airlines hat zeitweise eine Milliarde verloren. Das ist noch das geringste Problem, Börsenkurse erholen sich eher schnell wieder.

Imageschaden: Der Imageschaden ist enorm. Öffentlich und auch im eigenen Unternehmen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Letztere "zahlen" den Schaden aktiv mit, indem sie das Verhalten ihres Arbeitgebers gegen alle Seiten ebenfalls rechtfertigen müssen. Und die Geschichte ist noch längst nicht ausgestanden: Knapp zwei Wochen nach dem Vorfall ist die Öffentlichkeit immer noch dabei, den Fall zu zerpflücken und das Image der Airline weiter zu demontieren.

Vertrauensverlust: United Airlines steht im Fokus. Kein Tag vergeht seither, an dem nicht weitere Fälle in Medien und Social Medias kolportiert werden, bei denen sich die Airline ihren Passagieren gegenüber ebenfalls "schlecht benommen" haben soll. In Bild, Text und Videoclips. Ob die Fakten der einzelnen Fälle stimmen oder nicht, interessiert die Öffentlichkeit in dieser Phase nicht mehr, man traut das der United Airlines nun eben einfach zu. Jeder mediale Hieb in die offene Kerbe vergrössert den Verlust an Vertrauen und Reputation.

Image und Vertrauen haben nicht nur gelitten, das eine wie das andere ist aktuell im Keller. Das ist für jedes Unternehmen gravierend, für eine Airline ist das eine Katastrophe. Wer heute eine Maschine der United besteigt, tut das möglicherweise mit einem anderen Gefühl als noch vor zwei Wochen. Öffentlichkeit und Fluggäste bekommen die Bilder nicht aus dem Kopf, die zeigen, wie ein zahlender Passagier brutal aus dem Flugzeug geschleift und dabei verletzt wird, um Platz für "wichtigere" Passagiere zu schaffen.

Der Einfluss von Smartphones, Social Medias und Medien

Vor zehn Jahren war es noch etwas einfacher, Information und die Verbreitung von Informationen zu beeinflussen. Die Spielregeln haben sich geändert. Die Welt und Menschen ticken digital. Wenn heute irgendwo etwas passiert, halten Menschen mit Smartphones zeitgleich drauf. Ab diesem Punkt verselbständigt sich die "Berichterstattung" und ist nicht mehr kontrollierbar. Die Videoclips gehen direkt und in Sekunden ungefiltert auf Twitter, Facebook, Youtube und andere Social Media-Plattformen. Medien nehmen die Clips im TV und online ins Programm. Das Video des vietnamesischen Arztes, der gnadenlos aus dem Flugzeug gezerrt worden ist, war am selben Tag weltweit in den Programmen sämtlicher TV-Sender und Thema auf unzähligen Online-Plattformen. Was im Flugzeug mit einer Handvoll direkter Zeugen begann, hat in Minuten und Stunden die breite Öffentlichkeit erreicht.

Diese Wirkung und die mediale Kraft muss jedem CEO oder Krisenmanager bewusst sein, der die losgetretene Lawine der Empörung nun kanalisieren soll. Offenheit und klare Kommunikation minimieren den Schaden, im Gegensatz zu Lavieren, Ausweichen und Salami-Taktik. United Airlines-CEO Oscar Munoz hat mit seinem dürren Vier-Satz-Statement nicht nur einen Brandbeschleuniger aktiviert, er hat damit auch die boshafte Kreativität der Community angestachelt.

Tagelang waren und sind Clips und Statements unter mehreren Hashtags online, millionenfach geliked, geteilt und geklickt, welche Spott und Häme über die Airline ausschütten. Neue Slogans sind für die Airline kreiert worden, im Sinne von: "Dürfen wir Ihnen beim Aussteigen helfen?", "Wir behandeln Sie wie Ihr Gepäck." oder "We can't beat our competition, but we can beat you." Auf diesem Boden hat eine Konkurrenz-Airline einen Spot realisiert, der in direktem Zusammenhang klar macht, dass Fliegen mit Komfort, Service und Willkommensein zu tun hat und nicht im brutalen Rauswurf enden wird.

Dieser Teil der Community-Kreativität ist nicht zu unterschätzen, weil über die direkte Breitenwirkung hinaus Medien die "besten" Clips und "neuen Slogans" wiederum weltweit thematisieren und damit das ursprüngliche Ereignis mit immer neuen Negativ-Schlagzeilen nähren und am Leben halten. Im Resultat kämpft United Airlines nun mit den Auswirkungen des wahrscheinlich grössten Shitstorms, den eine Fluggesellschaft je produziert hat.

Es ist angerichtet

Das hätte in dieser Stärke nicht sein müssen. Die Erfahrung lehrt, dass Öffentlichkeit und Medien nach der ersten Empörung in einen versöhnlichen Modus wechseln, wenn ein Unternehmen zu Ereignissen steht, aktiv, vorbehaltlos offen und ehrlich kommuniziert, konkrete Massnahmen ergreift und glaubwürdig am Ball bleibt, bis der Fall aufgearbeitet ist, Wiedergutmachung geleistet, Defizite kompensiert sind und eine Wiederholung desselben "Fehlers" ausgeschlossen werden kann.

Eine Krise bleibt dann eine bewältigbare Krise, die sich nicht zum Desaster und zur imagemässigen Katastrophe auswächst. Im Resultat und längerfristig kann eine Unternehmen sogar an Vertrauen und Glaubwürdigkeit gewinnen, weil es auch in Krisen als offener und ehrlicher Partner agiert. Unternehmen werden in der Regel nicht für Fehler bestraft – für Vertuschung, halbherzige Lösungen und unglaubwürdige Kommunikation hingegen umso heftiger.

Was hat das mit der Finanzbranche zu tun?

Ist Vertrauen in jedem Wirtschaftszweig ein wichtiger Aktivposten, ist Vertrauen in einigen Branchen noch sehr viel höher zu bewerten. Zum Beispiel wenn's um Fliegen, um Gesundheit oder auch um Finanzen geht. Die Finanzbranche gehört mit zu den "sensiblen" Branchen. Vertrauen ist Kapital und muss sorgsam aufgebaut, immer wieder bestätigt und gepflegt werden. Auch in der Finanzbranche gab es in der Vergangenheit und wird es auch in Zukunft Krisen geben, die besser oder schlechter überstanden werden. Aktives Krisenmanagement beeinflusst sehr massgeblich, ob die Ressource "Vertrauen" nur eine vorübergehende Delle abbekommt oder nachhaltig geschädigt wird.

Woran liegt's?

Gerade grosse Konzerne mit Gewicht und Ausstrahlung verfügen über Know-how und Strategien im Risiko- und Krisenmanagement. Schwer zu verstehen, weshalb diese Pläne und im Kern einfachen Regeln mit kühner Regelmässigkeit ignoriert und durch die Taktik des Verschleierns, der halbherzigen Statements und der scheibchenweisen Informationen ersetzt werden. Zu welchen Resultaten das führt, ist hinlänglich bekannt und durch zahlreiche Beispiele belegt. Fehler, die clevere Kinder ab sieben Jahren nicht mehr begehen – Krisenmanager offensichtlich schon, immer wieder.

Woran liegt's, dass sich Topmanager wider besseres Wissen dazu hinreissen lassen, sämtliche Regeln des Krisenmanagements zu missachten, in Panik geraten und kopflos zu einem kommunikationsstrategischen Höllenritt ansetzen. Im Bemühen, Schaden vom Unternehmen abzuwenden oder Schaden zu begrenzen, jedoch mit einer (Nicht-) Strategie, die nur Verlierer und Verluste produzieren kann und ein Ereignis zu einem Desaster werden lässt?

Eine schwach entwickelte Fehlerkultur

Teilweise liegt's möglicherweise an einer nicht vorhandenen oder schwach entwickelten Fehlerkultur. Unternehmen funktionieren perfekt, Menschen machen keine Fehler, Topmanager schon gar nicht. Das wäre die Idealvorstellung der schönen neuen Welt, die (glücklicherweise) niemals Realität wird. Machen also Menschen Fehler und können sich diese Fehler durch die Verkettung von mehreren unguten Umständen zu Superfehlern auswachsen, dann ist das schlecht, aber immer wieder möglich. Vor allem jedoch ist das korrigierbar. Und dass man daraus lernen kann, ist dann die Binsenwahrheit und Erkenntnis zur Geschichte.

Menschen, Mitarbeiter, Topmanager und Unternehmen sollten nicht nach Fehlern, sondern vielmehr nach ihrem Umgang mit Fehlern beurteilt werden. Öffentlichkeit und Medien können das schon ziemlich gut. Die Wirtschaft selbst hat noch Nachholbedarf.

Die Angst vor Fehlern muss minimiert werden. Von Einzelnen produzierte Fehler sollten als erster Anlauf, als Lehrstück und Weg zur Lösung im zweiten Schritt betrachtet werden. Kollektiv produzierte Fehler dann als Fallstudie für eine Organisation – und damit als Chance, Defizite zu erkennen, ähnliche Fehler zu verhindern und dadurch immer besser zu werden.

Wird die Angst vor Fehlern geringer und nicht bedingungslos mit "Versagen", "Scheitern" und "Strafe" in Verbindung gebracht, dann werden Fehler zum alltäglichen Teil von Diskussion und Kommunikation. Innerhalb des Unternehmens und auch in der Kommunikation gegen aussen. Ein offener und selbstverständlicher Umgang mit gemachten Fehlern lässt Manager auf allen Ebenen in einer gewissen Entspanntheit das Richtige tun. Und sind die ersten Auswirkungen, ohne jede Panikreaktion, "repariert und behoben", können im nächsten Schritt Massnahmen etabliert werden, welche demselben Fehler in Zukunft keine Chance lassen.

Es könnte sich lohnen, vor dem nächsten Kommunikations-Desaster die Fehlerkultur im Allgemeinen und auch im eigenen Unternehmen zu thematisieren und in der Betrachtung auf neue Beine zu stellen. Damit der Begriff "Fehler" nicht mit "Bestrafung" assoziiert wird, intern oder extern, vielmehr mit der Chance zur Optimierung, nachdem die direkten Folgen des Fehlers wieder gutgemacht worden sind. Das verhindert erstmal noch keine Vorfälle mit ersten negativen Schlagzeilen, kann jedoch durch den klugen Umgang mit Fehlern und Ereignissen dafür sorgen, dass sich ein Vorfall nicht zu einer Katastrophe auswächst. Eine richtig verstandene und intelligent gepflegte Fehlerkultur generiert auf verschiedenen Ebenen klare Vorteile für ein Unternehmen, für kleine und für grosse.

Krisenmanagement als Teil der Digitalen Transformation

Auch das ist ein Teil der Digitalen Transformation. Krisenmanagement bleibt in den Grundzügen einfach und hat sich im Laufe der Jahre nicht grundsätzlich verändert. Ausnahme: Das Tempo und die Kanäle für die Verbreitung von Informationen funktionieren heute völlig anders und dadurch auch der Umgang mit Informationen. Jedes Individuum kann Mediennutzer und Nachrichtenproduzent gleichzeitig sein. Jedes Smartphone pusht Bilder, Videos und Kommentare sofort in Social Medias. Nachrichten verbreiten sich in Sekunden und Minuten. Und diese medialen Inhalte erreichen über digitale Kanäle zeitgleich Millionen von Menschen.

Was sich beunruhigend anhört, ist auf der anderen Seite auch als Chance zu verstehen: Alle Kanäle, die einer empörten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, können auch von Unternehmen genutzt werden, um auf diese Empörung zu reagieren. Im gleichen Tempo und genau richtig adressiert. Dort, wo aktuell die Suppe am Überkochen ist. Im besten Fall wird dann Reagieren sehr bald durch aktives Agieren ersetzt. Und damit durch Kommunikation auf Augenhöhe, welche nicht beschwichtigt, sondern vielmehr Wogen durch sichtbare und erklärbare Taten glättet.

Business Insider: Video und Reaktionen

Stichworte zum Thema im Lexikon: Digitale Transformation