Digitale Schweiz

Georg Greve zur Zukunft der digitalen Schweiz

Georg Greve, Vereign

In unserer Serie richten wir den Scheinwerfer auf die digitalen Macherinnen und Macher der Schweiz – heute auf Georg Greve.


Wer bist du und was muss ein junger Digital Native, der noch am Anfang seiner Berufskarriere steht, über dich, deine Organisation und ihre digitalen Initiativen wissen?

Ich bin ein grundsätzlich unvernünftiger Mensch im Sinne von George Bernard Shaw. Meine Faszination für Computer begann in den 1970er-Jahren. Als kleiner Bub begleitete ich meinen Vater regelmässig ins Institut der Biologischen Anstalt Helgoland, wo er als einer der Ersten die marinen Ökosysteme auf einer PDP-11 modellierte und so gemeinsam mit Wissenschaftlern auf der ganzen Welt die Grundlagen legte für die heutige Ökologie und Klimaforschung. Mit 12 Jahren begann ich auf meinem Schneider CPC-464 mir selbst das Programmieren beizubringen und hatte mit 18 meine erste kommerzielle Veröffentlichung mit einem in Assembler geschriebenen Programm auf dem Atari ST.

Seit früher Kindheit war ich fasziniert von der Idee des Universalwissenschaftlers, denn um die Welt verändern zu können, muss man sie zunächst einmal verstehen. Nach dem Besuch eines Humanistischen Gymnasiums brachte mich ein Physik-Studium an der Universität Hamburg diesem Ideal näher und ich habe in dieser Zeit neben Hartnäckigkeit auch gelernt, komplexe Systeme zu verstehen und Problemen an die Wurzel zu gehen. Das lateinische Wort für Wurzel ist übrigens "Radix". Radikal bedeutet daher "an die Wurzel gehend" – also echte Lösungen anstelle von Ergebniskosmetik. Es war mir nie genug, Probleme nur zu verwalten. Wenn ich ein Problem erkannt hatte, wollte ich es lösen.

Vor dem Internet gab es die Mailboxen, in die man sich per Modem einwählte und die vor allem nachts, wenn die Verbindungen günstiger waren, ihre Daten miteinander ausgetauscht haben. Ich betrieb damals eine der beliebtesten Mailboxen Hamburgs mit ein paar Freunden – und als das heutige Internet entstand, war ich live dabei. Daher entschied ich mich nach dem Physik-Studium auch gegen eine Doktorarbeit in der Nanotechnologie, zugunsten meiner lebenslangen Faszination für digitale Technologie. Mir war klar, dass das Internet und die Gestaltungsmacht von Software unsere Gesellschaft grundsätzlich und radikal verändern würde. Es war mir auch klar, dass die meisten Menschen diese Auswirkungen nicht sahen oder dramatisch unterschätzten.

Daher gründete ich gemeinsam mit anderen die Free Software Foundation Europe (FSFE) als Nichtregierungs-Organisation für die Grundlagen einer am Menschen ausgerichteten digitalen Gesellschaft. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und die Errungenschaften der Aufklärung waren dabei unsere Leitideale. Als Gründungspräsident der FSFE habe ich mit Menschen aus den verschiedensten Umfeldern und Disziplinen zusammenarbeiten und die ganze Welt bereisen dürfen. Und mehr als einmal haben wir alles aufs Spiel setzen müssen – beispielsweise im Monopolverfahren gegen Microsoft, die damals Open Source noch mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft haben. Am Ende wurde die Organisation mit der Theodor Heuss Medaille ausgezeichnet und mir selbst wurde von der Deutschen Regierung das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

Während dieser Zeit hatte ich das Privileg, mit vielen interessanten Menschen und Organisationen zusammenzuarbeiten und Einblicke in die ganz Grossen zu erhalten. Neben IBM und Google kenne ich auch die Europäische Kommission und die Vereinten Nationen gut. Gerade die letzten beiden Organisationen haben enormes Potenzial, Innovation zu befördern oder zu behindern. Für mich war das aber nicht genug. Ich wollte Veränderung gestalten. Daher entschied ich mich für die Firmengründung und war dann sieben Jahre bei Kolab Systems in Zürich engagiert. Als Spin-Out vom Deutschen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie ging es dort um sichere Email, Kalender und mehr. Denn eine Gesellschaft, aufbauend auf den Prinzipien der Aufklärung, erfordert eine Freiheit der Gedanken. Kontrolle über unsere persönlichen Daten und Privatsphäre sind dafür zwingend notwendige Voraussetzung.

Daran glaube ich bis heute. Allerdings denke ich mittlerweile auch, dass mein Ansatz damals nicht annähernd radikal genug war. Auf der Suche nach der Wurzel wurde mir klar, dass das Problem persönlich ist und daher auch die Lösung persönlich sein musste. Angefangen bei der persönlichen Identität, die sich zunehmend in den digitalen Raum verschiebt. Was im Internet passiert, ist heute oft realer für unsere Selbstwahrnehmung als die physikalische Welt. Gleichzeitig hat der gesamte digitale Raum ein gigantisches Problem, welches spätestens seit Brexit und Trump-Wahl offenbar ist: Es ist zunehmend unmöglich, Wahrheit und Täuschung auseinander zu halten.

Zu den bekannten Fake News und Phishing Mails gesellen sich Deep Fake-Telefonanrufe und demnächst auch Videos und Video-Chats. Mit wem wir wirklich interagieren, wird zunehmend unklar. Ist mein Gegenüber wirklich diese Person? Ist es überhaupt eine Person? Wir wissen das zunehmend weniger. Gleichzeitig haben diese Personen und Computer grossen Einfluss auf unsere Überzeugungen, Handlungen und Identität. Im professionellen Kontext erzeugt diese Unsicherheit mittlerweile Milliardenschäden. Unter anderem durch Business Email Compromise. Diese Schäden übersetzen sich in geringere Investitionen und verlorene Arbeitsplätze, was der gesamten Gesellschaft schadet. Um diese Probleme zu lösen, haben wir im November 2017 Vereign im Cryptovalley Zug gegründet.

Unsere Lösung unterstellt persönliche Daten und Identität der Kontrolle der Nutzer auf ihren Geräten. Zwischen den Identitäten bildet sich durch Interaktion über Email und Dokumente, später auch Chat, Voice und Video, ein soziales Geflecht welches peer to peer – also direkt zwischen den Teilnehmern – und föderiert funktioniert. Jede Person und jedes Unternehmen können ihre Daten immer auch selber hosten oder verschlüsselt in der Cloud speichern. Jede Identität aggregiert Verifikation von Dritten, beispielsweise Regierungen oder Unternehmen wie Banken. Unsere Identität kommt integriert in Gmail und Office365, später auch anderen Plattformen, und kann in jeden Dienst und jede Software leicht integriert werden.

Für die Nutzerin bedeutet dies ein verifiziertes, sich selbst aktualisierendes Adressbuch, welches jeder Interaktion die Authentizität garantiert. Völlig ohne manuelle Schlüsselverwaltung oder kryptische Verschlüsselungsprobleme erzeugt das System Einmalschlüssel für jede Interaktion. Alle Interaktionen sind über einen Distributed Ledger abgesichert und können so nicht zentral verfälscht werden. Nutzer können auch ohne Mittelsmänner direkt die Integrität und das Vertrauen herstellen. Für Unternehmen bedeutet es nahtlose Integration von Email und e-Signing – auch qualifiziert – mit einem sich selbst aktualisierenden CRM, welches sogar mit Endkunden in unterschiedlichen Systemen funktioniert.

Meine Rolle als Head of Product ist, meine knapp dreissig Jahre Erfahrung mit Technologie und Sicherheit in eine Lösung zu übersetzen, die für alle Menschen und Unternehmen funktioniert – nicht nur die, die als Digital Natives tief in Kryptografie und anderen Themen stehen. Dabei darf ich mit einem wahnsinnig spannenden Team zusammenarbeiten, dessen Qualifikation wirklich einzigartig ist.

Und sobald die Lösung ausreichende Verbreitung erfährt, hat sie das Potenzial, einige Probleme radikal, also von der Wurzel her, zu lösen und Nutzbarkeit, Kontrolle und Vertrauen völlig neu zu definieren. Deshalb kann ich mir im Moment keine bessere Tätigkeit vorstellen.

Mit welcher digitalen Macherin möchtest du dich gerne einmal bei einem Kaffee austauschen, weil sie für dich ein spannendes Rollenmodell oder gar Vorbild verkörpert? 

Dank meiner verschiedenen Aufgaben über die Jahre hatte ich das grosse Privileg, schon oft Kaffee mit tollen digitalen Macherinnen zu trinken. Auch im Umfeld der FinTech Rocker haben wir tolle Macherinnen, die zu sehen ich mich immer wieder aufs Neue freue. Und schliesslich habe ich das Glück, eine digitale Macherin zur Frau zu haben – und gemeinsam versuchen wir uns an der völlig analogen Aufgabe, unsere beiden Söhne zu begleiten, während sie die Welt neu entdecken.

Da fällt es mir nicht so leicht, eine bestimmte Person herauszusuchen. Was mich wahnsinnig faszinieren würde, wäre einmal mit einer der Frauen aus Bletchley Park zu sprechen. Dort wurden im 2. Weltkrieg die Codes der Enigma-Maschine geknackt und ein grosser Teil des Teams war weiblich, auch wenn wir heute meist nur von Turing und anderen Männern wissen.

Frauen haben unsere Technologie massgeblich geprägt, sind bei der Geschichtsschreibung aber ganz gerne mal "vergessen" worden, weshalb gerade in der westlichen Welt Informations-Technologie oft als "Männerdomäne" gilt. Das ist dumm und ich kann nicht glauben, dass wir die Hälfte der menschlichen Gehirne für die Zukunft der Technologie nicht benötigen sollten.

Was können Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Bildung und wir alle tun, damit es in Zukunft Google, Salesforce und Facebook aus der Schweiz gibt? 

Zumindest zwei der drei genannten Unternehmen haben ein Geschäftsmodell, welches teilweise oder vollständig im Konflikt steht mit einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft. Sie befördern Überwachungskapitalismus und verdienen ihr Geld mit Manipulation – entweder direkt oder durch bewusstes Wegschauen bei ihren eigentlichen Nutzern, den Anzeigenkunden. Der grösste Teil der "Nutzer" sind dort nur Rohmaterial und der Fichenskandal war im Vergleich zu den Profilen dieser Unternehmen eher Kinderkram. Daher bin ich nicht sicher, ob ich zwingend mehr derartige Unternehmen in der Schweiz sehen will. Aber ich verstehe schon, dass die Frage eigentlich anders gemeint war: Wie bekommen wir so erfolgreiche Technologie-Unternehmen auch in der Schweiz?

Der Erfolg dieser Unternehmen begründet sich auf mehrere Faktoren: Ein grosser Markt mit einer einzigen Sprache und einer grossen Zahl von Menschen, die eher zukunftsgläubig sind und gerne neue Dinge ausprobieren. Ein gutes akademisches Umfeld mit starker internationaler Durchmischung, welches bewusst die besten Köpfe aus der ganzen Welt anziehen will. Viele Menschen, die im besten Sinne hungrig und risikofreudig sind, weil schon der Versuch des Unternehmertums positiv besetzt ist. Scheitern ist nicht zwingend ein Makel. Menschen, die es versucht haben, wird Respekt entgegengebracht und es stehen ihnen auch zweite, dritte und vierte Chancen offen. Statistisch sind ältere, erfahrenere Unternehmer sehr viel erfolgreicher. Bei uns kommen sie oft nicht an diesen Punkt.

Das Ganze wird flankiert von einem sehr aktiven Coaching, Angel- & VC-Investoren-Umfeld, welches auch bereit ist, schon früh viel Geld in die Hand zu nehmen, während generell in Europa der Schwerpunkt auf Wachstumsfinanzierung von Ideen liegt, welche bereits ihren Erfolg bewiesen haben. Diese Affinität für Wachstumsfinanzierung spiegelt letztlich dieselbe Geisteshaltung, die auch bei vielen potenziellen Kunden vorherrscht: Ich habe nicht die ausreichende Kompetenz, es wirklich einzuschätzen. Aber wenn es eine gute Idee wäre, dann hätte es doch schon jemand gemacht. Daher kann es keine gute Idee sein.

Auch die Regierung ist aktiv im Finanzierungsumfeld und bei der frühen Nutzung von neuen Technologien – was Unternehmen den wichtigen Markteintritt einfacher macht. Und im Schnitt machen die öffentlichen IT-Budgets etwa 30 Prozent des Marktes aus. Der Effekt ist hier also enorm.

Die Schweiz macht in vielerlei Hinsicht schon eine Menge richtig, kann aber in einzelnen Punkten sicher noch besser werden. Ob eine "let's try it"-Mentalität so einfach zu etablieren ist, wage ich nicht vorherzusagen. Sie existiert aber an vielen Orten – auch da, wo man sie vielleicht nicht vermuten würde. Die Regierung im Kanton Zug ist in dieser Hinsicht für mich eine grosse, positive Überraschung gewesen – was auch ein Grund war, warum wir uns für die Gründung in Zug entschieden haben.

Was würde dein Teenager-Ich heute zu dir sagen und was würdest du deinem 15-jährigen Ich mit auf den Weg geben wollen für seine Zukunft? 

Mein Teenager-Ich würde sich vermutlich wundern, was wir so alles erlebt haben und dass es uns noch gibt. Ich würde meinem Teenager-Ich auf den Weg geben wollen, noch mutiger und radikaler zu sein und noch mehr auf die innere Stimme zu hören. Denn die Dinge, die ihm einfach fallen, sind deshalb nicht für alle Menschen einfach und offensichtlich. Auch hätte ich mir gerne mit auf den Weg gegeben, dass es ein Wort gibt für das, was wir sind: Unternehmer.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit hätte das Teenager-Ich mich aber ignoriert. Denn im Zuhören war ich damals nicht so toll, glaube ich.

Welchen Stellenwert haben Anlässe wie der Digital Economy Award für die Förderung einer starken digitalen Innovationskultur in der Schweiz? 

Diese Events sind gut und wichtig, weil sie Sichtbarkeit erzeugen und hoffentlich zu einem "das kann ich auch" führen. Auch ist es immer spannend zu schauen, was andere Menschen so machen. Und für uns Unternehmer ist es immer eine tolle Anerkennung für derartige Preise nominiert zu werden. Das ist eine wichtige Validierung und auch eine grosse Motivation. Daher habe ich mich dieses Jahr sehr auf die Veranstaltung im Hallenstadion gefreut – für einmal nicht, um dort Eishockey zu zelebrieren.

Der Interviewpartner: Georg Greve

Georg Greve ist ein deutscher Programmierer, Unternehmer und Autor und seit 2006 in der Schweiz zu Hause.

Er war Gründungspräsident der Free Software Foundation Europe (FSFE), Präsident und CEO der Kolab Systems, Mitglied der Deutschen Regierungsdelegation zum Weltgipfel der Informationsgesellschaft und Mitgestalter von vielen noch heute aktiven Programmen und Initiativen.

Für seine ausserordentlichen Leistungen im Bereich Offener Software und Offener Standards wurde Georg 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Seit 2017 ist Georg Verwaltungsratspräsident und Head of Product Development beim Startup Vereign in Zug.