Der Nutzen einer Contact-Tracing-App leuchtet auf den ersten schnellen Blick ein: Ist eine Person mit dem Corona-Virus infiziert, können andere Personen sofort gewarnt werden, welche mit der infizierten Person nahen Kontakt hatten. Damit könnten Infektionsketten erkannt und durchbrochen werden.
Wie gesagt, das ist der erste schnelle Blick. Auf den zweiten Blick stellen sich zahlreiche Fragen.
Zentrale Fragen zum Umgang mit einer Corona-App
Das Thema sowie die Technologie und deren Umsetzung sind komplex, deshalb nur einige Fragen, die beantwortet werden müssen:
Der Widerspruch von grossflächigem Einsatz und Freiwilligkeit
Das System der Nachverfolgung von Kontakten ist nur dann sinnvoll, wenn alle oder zumindest grosse Teile der Bevölkerung die App runtergeladen haben und sich am Projekt beteiligen. Wie ist dieser zentrale Aspekt, der sichtbaren Erfolg bringen kann, mit der bisher angeführten und beabsichtigten Freiwilligkeit der Nutzung der App in Einklang zu bringen?
Die Frage der Datenerhebung
Wie werden die Daten von bisher gesunden Menschen mit Corona-Infizierten abgeglichen oder anders gefragt: Auf welchen Wegen kommt die Information einer Infiizierung ins System? Durch die Infizierten selbst? Durch eine Behörde oder durch ein Amt?
Die möglichen Auswirkungen auf die Betroffenen
Welche Auswirkungen hat eine Infizierung oder der Kontakt mit einer infizierten Person für die Betroffenen? Handeln diese Betroffenen selbst nach bestimmen Empfehlungen – oder werden sie durch eine Behörde "aus dem Verkehr gezogen"?
Die Fragen von Datenschutz, Speicherung und Datenverwendung
Die angeführten Punkte laufen im Kern auf dieselbe Kernfrage hinaus: Wer verwaltet die gesammelten Daten, wem sind sie zugänglich und was geschieht an welcher Stelle mit diesen Daten?
Im Zusammenhang mit diesen Fragen scheint im Moment die Idee der Anonymisierung von Personen und sämtlicher Daten weder gelöst noch bedingungslos praktikabel zu sein. Und falls doch, gehören diese Punkte breit kommuniziert, damit eine Corona-App überhaupt die Chance hat, grossflächig eingesetzt zu werden.
Contact-Tracing-Projekte
Aktuell laufen zahlreiche Projekte, welche innerhalb von einzelnen Ländern oder grenzübergreifend in ganz Europa via App diese Kontaktnachverfolgung möglich machen sollen. Die zentralen Fragen sind jedoch, wie es scheint, weder bei den Machern noch auf politischer Ebene klar benannt und damit einer möglichen Lösung nahe.
Zu den bekannten Projekten gehören die beiden Initiativen PEPP-PT sowie DP-3T, welche bis vor Kurzem kooperiert und Informationen geteilt hatten. Das Projekt PEPP-PT (Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing) ist eine prominente Initiative, an der mehr als 130 Forscher aus acht europäischen Ländern beteiligt sind. Eine Anwendung, welche über Bluetooth funktionieren soll, freiwillig und datenschutzkonform sein soll und ihren Quellcode offenlegen will.
Bekanntlich ist der Epidemiologe Marcel Salathé von der ETH Lausanne (EPFL) am 17. April 2020 aus dem Projekt ausgestiegen. Dies nachdem das Team der ETH Zürch und der EPFL mit ihrem dezentralen Ansatz (Daten primär auf dem eigenen Smartphone, keine Speicherung von Daten oder nur unbedingt notwendige Daten auf einem zentralen Server) offenbar aus nicht kommunizierten Gründen von der offiziellen Website von PEPP-PT verbannt worden ist. Salathé hat seinen Ausstieg mit folgenden Worten kommuniziert:
«Ich trenne mich persönlich von PEPP-PT. Obwohl ich fest an die Kernideen (international, Wahrung der Privatsphäre) glaube, kann ich nicht hinter etwas stehen, von dem ich nicht weiss, wofür es steht. Derzeit ist PEPP-PT nicht offen genug und nicht transparent genug.»
Marcel Salathé wird den bisher von ETH und EPFL gewählten, dezentralen Ansatz (DP-3T) auch in Zukunft weiterverfolgen – konkret also den Weg, der mit persönlichen Daten zurückhaltender umgehen will, als dies bei einer Lösung mit zentraler Speicherung der Fall wäre. PEPP-PT scheint nicht mehr beide Ansätze zu verfolgen, sondern auf den Weg der zentralen Datenspeicherung zu setzen (sämtliche Daten auf einem zentralen Server).
Zentraler oder dezentraler Ansatz und grundsätzliche Bedenken
Festzuhalten ist, dass beide Ansätze datenschutzrechtliche Fragen aufwerfen oder auch Risiken benennen – insbesondere zu den Punkten, dass auf Smartphones, auf zentralen Servern oder auch "unterwegs" Daten gehackt, abgegriffen und genutzt werden können. Offen bleibt weiterhin die Frage, Hacks einmal ausgenommen, durch wen legitimiert Daten wo und in welcher Form gespeichert, eingesehen oder genutzt werden dürfen.
Unabhängig vom zentralen oder dezentralen Ansatz wird die vorher schon engagiert geführte Diskussion mit dem Ausstieg von Marcel Salathé aus dem PEPP-PT-Projekt nun noch deutlich hitziger ausgetragen. Das erhöhte Interesse gibt weiteren Aspekten ein zusätzliches Gewicht.
Im Vordergrund stehen dabei vor allem auch die Fragen der Freiwilligkeit, Unsicherheiten zur Rolle des Staates und der Behörden sowie generelle Bedenken zum Schutz der persönlichen Daten. Die am 10. April 2020 kommunizierte Meldung von Apple und Google, gemeinsam Werkzeuge zu entwickeln, welche Apps von Drittanbietern beim Contact-Tracing unterstützen, kann einerseits tatsächlich Probleme lösen, wirft auf der anderen Seite jedoch zusätzliche datenschutzrechtliche Fragen auf.
Wie die Tracking-Funktion von Apple und Google im Detail funktionieren soll, haben unsere Kollegen von der Netzwelt hier anschaulich dargestellt.
Die beiden Tech-Giganten, welche mit ihren Betriebssystemen iOS und Android den Smartphone-Markt dominieren, verfolgen offenbar einen dezentralen Ansatz. Dennoch haben beide Anbieter die Möglichkeit, über ganz normale System-Upgrades jede gewünschte Erweiterung auf die Smartphones von Milliarden von Handy-Nutzern zu spielen. Gefragt oder ungefragt – ungefragt meint in erster Linie: unbewusst. Die meisten Anwender informieren sich nicht im Detail, was ein Upgrade beinhaltet, sie starten ein empfohlenes Upgrade, weil es für den weiteren reibungslosen Betrieb ihres Smartphones notwendig ist.
Die Technologie, die bald schon verfügbar sein soll, öffnet App-Anbietern und Gesundheitsbehörden zusätzliche Türen, welche einen grossflächigen und schnellen Einsatz von Tracing-Apps möglich machen. Das kann sich als gewaltiger Vorteil erweisen, sofern Smartphone-Nutzer über Möglichkeiten und Auswirkungen eines Spezial-Upgrades sehr gut informiert sind und mit dem Upgrade nur das starten, was sie auch tatsächlich aktiviert haben wollen.
Neben grundsätzlichen Fragen zum Datenschutz sehen Kritiker hier vor allem den Punkt der Freiwilligkeit beim Einsatz entsprechender Apps infrage gestellt.
Der Spagat zwischen Sicherheit, Überwachung und Freiheitsrechten
Es dürfte nicht ganz einfach sein, eine wirkungsvolle Methode der Frühwarnung zum Unterbrechen der Infektionskette mit anderen berechtigten Punkten unter einen Hut zu bringen, zum Beispiel:
Freiwilligkeit der Teilnahme versus flächendeckende Wirkung, Schutz der Privatsphäre und damit Schutz vor Willkür und vor Sanktionen. Die Bedenken zu den verschiedenen Punkten sind nicht überall auf der Welt gleich stark ausgeprägt – je nach Staat, Staatsform, Regierung und Gesellschaft reagieren und agieren kritische Exponenten unterschiedlich. Auch in Demokratien und freiheitlichen Gesellschaften mit zufriedenen Bürgern sind die Bedenken jedoch deutlich spürbar, weil Menschen das Vertrauen in eine aktuelle Regierung nicht unbesehen auf die nächste Generation übertragen wollen.
Einigkeit scheint bei Befürwortern und Kritikern offenbar darin zu bestehen, dass durch eine wirkungsvolle Corona-App nicht freiheitliche Rechte geopfert werden dürfen, welche einer Gesellschaft nachhaltigen Schaden zufügen können. Zum Beispiel dadurch, indem Grenzen überschritten werden, welche einer Überwachung von Individuen durch den Staat heute oder später Tür und Tor öffnen.
Eine interessante Replik zum Thema kommt von der Video-Bloggerin Carolin Matthie. Die Vertreterin der jungen Generation denkt zwei, drei Schritte weiter und legt salopp im Ton und dennoch bestimmt in der Sache den Finger auf einige bedenkenswerte Punkte.