Der Think Tank Avenir Suisse ortet einen "Reformstau am Gotthard" und resümiert: "Die Schweiz steht still".
Will die Schweiz ihre Prosperität erhalten, so die Autoren, muss sie eigenständig neue Vorstellungen über ihre Zukunft entwickeln – mit Reformen im Inneren, aber auch in ihrem aussenwirtschaftlichen Verhältnis zu Europa und zum Rest der Welt. Um diesen Vorstellungen auf die Sprünge zu helfen, hat das neunköpfige Autorenteam um die beiden Herausgeber Peter Grünenfelder und Patrik Schellenbauer Überlegungen und Ideen zu einem Grundsatzpapier zur Zukunft der Schweiz zusammengefasst.
Weissbuch Schweiz
Mit dem "Weissbuch Schweiz" will die Denkfabrik die Diskussion über die Zukunft der Schweiz neu lancieren. Dabei warnt sie davor, dass das bequeme Verharren im Altbekannten und das Verwalten des Erreichten den Blick auf die Notwendigkeiten verstellen würde – auf die Risiken, aber auch auf die Chancen der Zukunft.
Um die Gegenwart zu charakterisieren und die mögliche Zukunft zu skizzieren, holen die Autoren eher ausführlich in der Vergangenheit Anlauf. Das Porträt der jüngeren Vergangenheit und der aktuellen Gegenwart fokussiert zwangsläufig relativ stark auf das Verhältnis Schweiz-EU. Dabei machen die Autoren aus ihren Herzen keine Mördergrube – wo ihre Präferenzen liegen und welchen Szenarien sie den Vorzug geben, bleibt auf und zwischen den Zeilen nicht verborgen.
Obschon das Weissbuch Schweiz in Sachen neutraler Betrachtung und Gewichtung nicht den ersten Preis gewinnen wird, sind zahlreiche Überlegungen und Gedankenanstösse lesenswert. Und vor allem diskutierenswert – und darum geht es.
Mit eine starke Rolle mit Blick auf die Zukunft spielt die Digitalisierung, welche wiederum alle Gruppen betrifft: Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
Sechs Skizzen der Zukunft
Zum Kern des Weissbuchs gehören die Kapitel "Skizzen der Zukunft: Denkbare Wege der Schweiz" und "Einordnung der Szenarien". Die von Avenir Suisse vorgeschlagenen Szenarien:
- 1 Selbstbestimmter Rückzug:
Traditionell, heimatverbunden und ökologisch - 2 Globale Oase:
Wenn sich der Kreis zwischen den Extremen schliesst - 3 Club Schweiz:
Kontrollierte Offenheit im Zeichen nationaler Souveränität - 4 Tragfähige Partnerschaft:
Die Schweiz im wirtschaftlichen Pragmatismus - 5 Europäische Normalität:
Die Schweiz als Teil des politischen Europa - 6 Skandinavischer Weg:
Auf der Suche nach dem kollektiven Glück
Auf jeweils 10 bis 15 Seiten werden die einzelnen Szenarien, die zwischen Alleingang, Mischformen bis und mit EU-Beitritt angesiedelt sind, im Detail präsentiert. Jedes der sechs Szenarien wird begleitet vom "Prozessablauf" der Abwicklung sowie einer Liste der erkannten "Risiken".
Ein Weckruf zum konstruktiven Streiten?
Genau als das bezeichnet Avenir Suisse ihr Weissbuch und will damit zur Diskussion auffordern. Erfüllt das Weissbuch Schweiz diese Funktion?
Wer sich die Mühe macht, ein Buch mit über 200 Seiten zu schreiben, ist nicht dazu verpflichtet, mit seiner eigenen Meinung hinter dem Berg zu halten. Das tun die Autoren auch nicht. In den sechs Szenarien und auch in den Einordungsvorschlägen zu den skizzierten Wegen bleibt kein Geheimnis, welchen Lösungen die Schreiber den Vorzug geben.
Mögen die vorgestellten Szenarien teilweise als etwas plakativ oder durch vermutete Auslassungen vielleicht auch als etwas einseitig empfunden werden – es sind sechs unterschiedliche Szenarien. Und ohne "ein bisschen Schwarz-Weiss" sind Szenarien schlecht zu positionieren und abzugrenzen.
Deshalb: Ja zum einen, das Weissbuch enthält Stoff für Diskussionen
Und auch Stoff zum Streiten. Die grundsätzliche Diskussion mit allen Beteiligten aus Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ist auch dringend notwendig, weil die digitale Zukunft nicht ohne eine klar positionierte Schweiz stattfinden soll. Völlig unabhängig davon, wer aktuell welche Meinung vertritt – ohne offene Diskussion und ohne ein breites Verständnis für die vielfältigen Auswirkungen der Digitalisierung, kann die starke Zukunft der Schweiz weder gedacht, noch konzipert und angepackt werden.
Das Weissbuch thematisiert nicht ausschliesslich die Digitalisierung, die Szenarien zielen primär auf das Verhältnis der Schweiz zur EU und zum Rest der Welt. Nur: Bei allen Überlegungen und Diskussionen zu denkbaren Wegen spielen Aspekte der Digitalisierung eine zentrale Rolle. Weil Technologie und damit die Digitalisierung Gesellschaft, Arbeitswelt, Wirtschaft, Soziales und Absicherung in allen Bereichen beeinflussen und teilweise massiv verändern werden.
Ohne kreative Konzepte und tragfähige Lösungen werden weder neue Probleme zu stemmen noch ebenso neue Chancen zu realisieren sein. Zumal die bewährten Rezepturen der Vergangenheit nicht auf die höchst anspruchsvollen und interessanten Herausforderungen der Zukunft anwendbar sein werden.
Deshalb sind alle Beteiligten gefragt, die gemeinsame digitale Zukunft zu denken und zu gestalten. Als Vordenker, Taktgeber und Zukunftsplaner steht hier die Politik in der ersten Reihe. Im Moment sind zu den brennenden Fragen und Themen noch sehr viele weisse Blätter unbeschrieben, die jetzt mit kreativen Ideen und pragmatischen Überlegungen gefüllt werden müssen.
Weckruf zum anderen?
Ob das mit dem Weckruf klappt, bleibt abzuwarten. Bisher sind, gerade in Fragen der Digitalisierung und ihren gesellschaftlichen Auswirkung, zahlreiche Themenkreise zur digitalen Zukunft der Schweiz noch weitgehend unberührt, undiskutiert und damit ungelöst. Das oft gehörte Argument, dass auch umliegende Staaten nicht viel weiter sind im Thema, gehört zu den eher schwachen Flügelschlägen. Geteilte Orientierungslosigkeit macht die Schweiz nicht stärker und entstandenen Problemen hinterherzurennen, die nicht hätten entstehen müssen, kann atemlos machen.
Insofern wäre auch der Absicht des Weckrufes zu wünschen, dass sie Wirkung zeigt.
Das Weissbuch zum Runterladen
2 Herausgeber, 9 Autoren, 222 Seiten, 8 Kapitel, 6 Szenarien, Fakten, Meinungen und auch Auslassungen zur Diskussion: das Weissbuch Schweiz von Avenir Suisse kann als PDF kostenlos runtergeladen werden – über den Link gleich unten.