Gastautor Cyrill Luchsinger über Kunden, Menschen, Beziehungen zu Unternehmen, Chancen der Corona-Krise – und über die Verteilung der Marktanteile nach der Krise.
Bleiben Sie zu Hause! Dieser Aufruf hat die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung vollständig verändert. In diesen herausfordernden Tagen und Wochen wird unser Alltag auf den Kopf gestellt. Viele unserer gewohnten Gestaltungspläne und Handlungsmuster sind uns auf unbestimmte Zeit abhandengekommen.
Anlässe, Business-Meetings, Reisen, persönliche Treffen: alles Makulatur. Wenn der Mensch still steht resp. Distanz halten muss, dann steht in der Konsequenz das ganze System still. Damit bekommt der "human factor" eine ganz neue Bedeutung.
Wir erfahren soziale Innovation an Beispielen wie Nachbarschaftshilfe, Generationensolidarität, Rücksichtnahme und Achtsamkeit. Und lernen, wie ein archaisches Virus unsere modern ausdifferenzierte Gesellschaft in die Knie zwingt.
Geschlossene Geschäfte, gestrichene Flüge, schleppende Geschäfte: Die Pandemie führt dazu, dass die Schweizer Wirtschaft pro Woche 4-5 Milliarden Franken verliert. Die Krise hat uns in einen Ausnahmezustand versetzt. Und sie zwingt uns, über uns nachzudenken.
Auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit in der Wirtschaft?
Ich bin der Meinung, wir brauchen das Wort "Kunde" nur durch das Wort "Mensch" zu ersetzen oder anstelle "Customer Experience Management (CX)" den Ausdruck "Human Centered Design" zu verwenden.
Viele Initiativen – z. B. diejenige der Nachbarschaftshilfe – setzen genau an diesem Punkt an. Es ist ein Fehler, CX-Management nur auf den (kommerziellen) Endkunden zu beziehen. "Customer" meint auch die Mitmenschen in der Nachbarschaft.
Wir haben den Kunden in der Vergangenheit oft nur noch als Transaktion wahrgenommen. Heute kehrt das Bewusstsein zurück, dass nicht die Transaktion, sondern die Beziehung zählt. Vieles was wir begonnen haben, wird sich konkretisieren. Bewährtes werden wir mit Erkenntnissen aus der Krise zu einem neuen Ganzen kombinieren.
Wir werden den Kunden ganzheitlicher begreifen und wahrnehmen. Der Kunde wird Teil der Lösung sein. Dabei geht es um "echte Kundenzentrierung" und die nachhaltige Optimierung der Kundenprozesse. Der Fokus gilt dem Menschen und seinen Bedürfnissen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, der Weg aber schon. Dieser ist heute ganzheitlicher, umfassender und radikaler als bisher.
Die Corona-Krise ist die Chance zum innovativen und kundenzentrierten Unternehmen der Zukunft zu werden
Digitale Transformation, emotionale Bindung sowie neue Services sind strategische Ziele, die es mit Entschlossenheit und konkreten Massnahmen zu verfolgen gilt.
Wir leben im Zeitalter des Kunden – eine zeitliche Einordnung
Im «Zeitalter des Kunden» sind diejenigen Unternehmen erfolgreich, welche es verstehen, ihren Kunden aussergewöhnliche Erlebnisse und einen nachhaltigen Nutzen zu bieten. Dabei ist es entscheidend, das Verhalten und die Erwartungen der Kunden so gut wie möglich zu verstehen und entlang von Customer Journeys und Touchpoints zu gestalten.
Die Corona-Pandemie bringt viele Unternehmen an den Rand des Abgrunds. Für einmal sind (fast) alle im gleichen Boot: Die Situation zwingt alle zum Handeln! Abwarten ist keine zielführende Option.
Unternehmen, die jetzt ihre CX-Strategie überdenken und an die sich abzeichnenden Marktveränderungen anpassen, werden im Vorteil sein. Neben dem Kampf um die Weiterexistenz gilt es Antworten darauf zu finden, wie sich zukünftige Marktchancen realisieren lassen und wie man sich langfristig von seinen Mitbewerbern differenziert.
Nutzen wir also den Schub um uns jetzt fit zu machen. Einen bewegten Körper in Bewegung zu halten ist einfacher, als einen statischen anzuschieben. Und was für Körper gilt, gilt auch für Unternehmen.
Was kommt nach Corona?
Es lohnt sich einen Blick darauf zu werfen, was die Corona-Krise für Chancen birgt:
Digitale Transformation wird sich beschleunigen
Die Digitalisierung hat in der Vergangenheit bereits eine Vielzahl von Wachstumschancen und beispiellose Herausforderungen mit sich gebracht.
Die eigentlichen Hürden dieser Transformation waren bisher starre Strukturen, Kompetenzlücken und Zurückhaltung auf den Führungsebenen.
Digitalisierung ist aber mehr als ein technologischer Trend. Es geht um einen Prozess der sozialen und kulturellen Veränderung. Dabei sind gleichermassen Innovation und Kundenzentrierung gefragt.
Millionen Menschen machen in diesen Wochen die Erfahrung, was mit dem Internet alles möglich ist, wie leicht man Geschäftsreisen durch Videokonferenzen ersetzen kann und wie gut es sich von zu Hause aus arbeiten lässt. Solche Erfahrungen vergisst man nicht.
Corona wird zu einem Beschleuniger der digitalen Transformation. Es wird die Märkte nachhaltig verändern und damit auch die Geschäfte und deren Abläufe.
Wirtschaftliche Erholung wird stattfinden
Unsere Wirtschaft ist zu einem grossen Teil auf Konsum ausgerichtet. Der Nachfragestau wird sich mit den schrittweisen Lockerungen auflösen und die Wirtschaft wieder ankurbeln. Eine Annahme, die auch stark von der Entwicklung in unseren Nachbarländern abhängt.
Wem momentan die Kunden wegbrechen, dem werden die Kunden allerdings auch nach der Krise fehlen. Vorausschauende Firmen kommen ihren Kunden jetzt entgegen. Kulanz bedeutet Investition in die Zukunft.
Jedes Unternehmens behauptet von sich: "Unser Kunde steht im Mittelpunkt". Gleichzeitig ist diese Erkenntnis auch eine Binsenwahrheit, denn ohne Kunden kein Geschäft und keine Einnahmen. In jüngster Zeit wurde diese "selbstverständliche Kundenzentrierung" oft überstrapaziert und blieb eine leere Floskel.
Jetzt in der Krise kann gezeigt werden, wie sehr einem seine Kunden am Herzen liegen
Abhängigkeiten und Lieferketten werden hinterfragt
Die Krise offenbart, wie anfällig die Abhängigkeiten in unserer globalen Welt geworden sind. Vieles spricht dafür, dass die Wirtschaft eine Neuordnung der Lieferketten anstrebt. Dies wird in vielen Unternehmen zu einer Neugestaltung der Leistungsangebote führen.
Unternehmen behalten vielerorts adaptierte Abläufe bei. Denn diese eigneten sich, um die veränderte Nachfrage bewältigen zu können. Damit führt die Corona-Krise dazu, dass auch bisherige Leistungserbringungsprozesse neu gestaltet und effizienter werden. Auch solche, über die vorher kaum jemand nachgedacht hat.
So mancher Service-Blueprint (Methode zur Visualisierung von Dienstleistungsprozessen) erfährt in den nächsten Monaten eine Weiterentwicklung resp. vollständige Überarbeitung. Idealerweise kann in dieser Phase gleich auch die betriebswirtschaftliche Relevanz des CX-Managements unter Beweis gestellt werden.
Die Wirtschaft der Post-Corona-Zeit wird digitaler sein, aber wahrscheinlich auch konservativer und nur langsam wachsend. Die Idee von "g-lokal" (think globally - act locally) wird stärker und längerfristig bestimmend. Und der Trend von "Qualität vor Preis" wird sich meiner Meinung nach festigen.
Neue Antworten auf neue Fragen
Was Covid-19 in den Köpfen der Menschen bewirken wird, wenn die Krankheit erst einmal eingedämmt ist, lässt sich nur schwer prognostizieren. Eine Erkenntnis hat sich mir in den letzten Wochen bestätigt: Auf existenzielle Krisen reagiert man am besten nicht in Panik, sondern mit ruhiger Entschlossenheit.
Wird die Welt wieder so wie vorher? Fallen wir sofort wieder in den alten Trott? Während Veränderungen wie das Abstand halten oder die Beschränkung von Personenzahlen wohl noch lange erhalten bleiben, liegt es an uns, welche Innovationen wir vorantreiben.
Die Luftfahrtindustrie ist – international und regional – ein guter Indikator für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung: Die Unternehmensberatung Roland Berger hat drei Szenarien für die Erholung der Luftfahrtindustrie nach der Corona-Krise gezeichnet. Im schlimmsten Fall rechnen die Experten erst 2025 wieder mit der gleichen Nachfrage nach Flugreisen wie 2019. Im besten Fall würde man gemäss Roland Berger schon 2021 wieder darüber liegen, im mittleren 2022.
Die Digitalisierung war schon vor der Corona-Krise für unsere Gesellschaft von grosser Bedeutung. Doch jetzt wird das allen gesellschaftlichen Akteuren bewusster. Wir dürfen gespannt sein, wie schnell daraus auf politischer und wirtschaftlicher Ebene Konsequenzen gezogen werden.
Die Krise wird einigen Langfristtrends zum Durchbruch verhelfen
Generell werden wir einen Trend zu echter Qualität sehen: Produkte, die hochwertig und langlebig sind; Erlebnisse, die einmalig und sinnstiftend sind. Dabei werden vermehrt lokale Produkte bevorzugt, da die Heimatverbundenheit zunehmen wird.
Im Management sind neue Qualitäten gefordert. Denn die Zukunft der Arbeitswelt nach Corona ist mehr als Home Office. Das belegt eine neue Studie der Universität St. Gallen: Leadership, Kultur oder Kompetenzentwicklung haben sich für die grosse Mehrheit der Unternehmen in der Corona-Zeit nicht verändert. Dabei bedeutet Home Office "Führen auf Distanz". In Zukunft geht es um mehr Vertrauen in und neue Kompetenzen für Mitarbeiter wie Führungskräfte, um mehr Demokratie und um Fairness zwischen den Geschlechtern.
Und wer gewinnt nach der Krise Marktanteile? Laut Dominique von Matt, Präsident der GfM Gesellschaft für Marketing, werden es Unternehmen sein, die vor allem über etwas verfügen: Empathie.